Friedrich Christoph Oetinger

lutherischer Theologe und Philosoph,
* 2.5.1702 Göppingen,
† 10.2.1782 Murrhardt (Württemberg).

Nach dem Besuch der Klosterschulen Blaubeuren und Bebenhausen (1717–22) studierte O. bis 1727 Theologie in Tübingen. Angeregt durch seinen Lehrer G. B. Bilfinger, war er zunächst Anhänger von Christian Wolff und, durch dessen Vermittlung, von Leibniz. Die Lektüre jüdisch- und christl.-kabbalistischer Schriften und von Werken Jakob Boehmes sowie die Begegnung mit Johann Albrecht Bengel wurden schließlich entscheidend für die Entwicklung seiner Theologie. Es schlossen sich gründliche Studien der Patristik und christl. Mystik an.

1729-37 unternahm er als beurlaubter Repetent des Tübinger Stifts mehrere Bildungsreisen vor allem in pietistische und spiritualistische Zentren wie Berleburg, Jena, Halle, Frankfurt, Berlin und auch nach Holland. Des öfteren blieb er länger in Herrnhut und reiste auch zusammen mit N. L. Gf. v. Zinzendorf, der ihn für sein Werk gewinnen wollte. Beider Wege trennten sich nach scharfen Auseinandersetzungen 1736/37 über dessen unbiblische Mittelpunktstellung Jesu, Verachtung des Gesetzes und geistlichen Totalitarismus. Separatisten trat O. stets unvoreingenommen gegenüber.
Als er in dieser Zeit keine seinen Vorstellungen vom Neuen Testament entsprechende christliche Gemeinde fand, ließ er sich in Homburg v. d. Höhe in der praktischen Medizin ausbilden. Doch erschien ihm nach Einsicht in die Destruktivität des geistlichen Perfektionismus dieser Weg schließlich als Flucht, und er entschloß sich 1738 zum Dienst in der württ. Kirche (Die Herunterlassung Gottes, 1735) und zur Heirat. Er bekleidete die Pfarrstellen Hirsau, Schnaitheim (1743) und Walddorf (1746, heute Walddorfhäslach), wurde Spezialsuperintendent in Weinsberg (1752) und Herrenberg (1759). Durch Übersetzungen machte er den schwed. Seher Swedenborg in Deutschland bekannt, um dessen Lehren »zu prüfen« (Swedenborgs und anderer irdische und himmlische Philosophie, 2 T., 1765, zuletzt 1977). Dies hatte aber bereits das Stuttgarter Konsistorium getan und O.s diesbezügliche Bücher als unorthodox und anstößig konfiszieren lassen. In der Folge hatte O. nun stets Schwierigkeiten mit der Zensur, die er geschickt zu umgehen wußte.

1765/66 kam er als Abt und Prälat nach Murrhardt, übernahm dort die Leitung der Klostergüter, erhielt einen Sitz im Ständeparlament und betrieb – wirtschaftlich erfolglos – ein Bergwerk. 1770 trat er nach bereits zuvor publizierten, eschatologisch begründeten Reformvorschlägen für alle Bereiche der Gesellschaft (Die güldene Zeit, 1759–61; 1864) vergeblich für J. J. Mosers Reformpolitik ein. Ostern 1779 hielt er seine letzte Predigt.

In Spannung zwischen orthodoxem Kirchen- und Luthertum, pietistischer Bibelfrömmigkeit und Erkenntnissen mystischer wie naturwissenschaftlicher Philosophie entstand O.s eigenständiger Entwurf einer philosophia sacra zur Überwindung der Herrschaft der Vernunft, wie auch geistlicher Einseitigkeiten (»je geistlicher – je greulicher«). Das in Leiblichkeit gefaßte »Leben« wurde ihm der wichtigste, »generative« Begriff und Denkweg. Sein Gespür für die Bibel ließ ihn in Hinsicht auf die leibliche Grundlage allen Lebens vom »Schriftmaterialismus« sprechen, womit er sich von der idealistischen Philosophie Wolffs absetzte. In Aufnahme antiker und zeitgenössischer (Shaftesbury) Philosophien entwickelte O. seine Vorstellung vom »sensus communis«, einer Idee menschlicher Solidarität, die er in der gegenwärtigen Wirkung des Schöpfer-Geistes begründet sah; aus dieser Solidarität seien gerade auch Christen nicht ausgenommen, was auf die Gestalt ihres Glaubens größten Einfluß habe.
Die Unmöglichkeit, Gott – das Leben – zu denken, versuchte er schließlich in einer Theologie der Verweisungen (»emblematische Theologie«) darzustellen, wozu er sich vor allem Denkbildern der Natur (besonders der Chemie, Alchemie, Physik) bediente, so etwa 1765 in seinen Gedanken zu einer Theologie der Elektrizität. Im strengen Festhalten am Alten Testament und im Gespräch mit Juden als dessen privilegierten Auslegern und Verwandten Jesu bildete er eine trinitarische Theologie der Leiblichkeit (Theologia vitae, 1765, zuletzt 1979, dt.: 1852; Bibl. Wörterbuch, 1776, zuletzt 1987) und Zeitlichkeit (auch Apokalyptik, Apokatastasis), die in ihrer Weite kaum ein Erfahrungsgebiet der damaligen Zeit unberücksichtigt ließ.

O. ist in seinen vielfältigen Bezugnahmen und seiner Absicht meist mißverstanden worden und hat auch keine Schule gebildet. Seine Wirkungen sind aber vielfältig, offensichtlich auf Teile des Pietismus (Eschatologie), Goethe (Polarität des Lebens), die spekulative Theologie und Anthroposophie, wahrscheinlich auch auf Hegel (Phänomenologie), Hölderlin (»Herrlichkeit«) und Schelling (»Prozeß«). Seit Ende der 60er Jahre ist eine O.-Renaissance in Philosophie und Theologie – hier zugleich mit der Wiederentdeckung der Lehre von der Trinität – festzustellen. O. bietet Ansatzpunkte zur Überwindung einer von ihm schon geahnten »Dialektik der Aufklärung« wie auch Wege aus einer in Bezug auf die Schöpfung achtlosen Theologie.

Werke von oder mit Friedrich Christoph Oetinger:


Einzelausgaben

Umschlagfoto

Friedrich Christoph Oetinger: Inquisitio in sensum communem et rationem

Tübingen 1753. Reprint.

Mit einer Einleitung von Hans-Georg Gadamer.
1964
412 S.
Leinen
ISBN 978-3-7728-0233-1
Neuauflage in Vorbereitung
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