Paul Henri d'Holbach
Naturwissenschaftler und Philosoph,
~ 8.12.1723 Edesheim bei Landau (Rheinpfalz),
† 21.1.1789 Paris. (katholisch)
Ausgebildet wurde H. auf Kosten seines in Paris durch Spekulationen reich gewordenen, in Wien geadelten Onkels Franz Adam von Holbach. Er genoß anfangs Hauslehrerunterricht in Edesheim, die weitere Erziehung wohl ganz – unbekannt wo – in Frankreich. 1744-48 war er zu Universitätsstudien in Leiden und erhielt durch die dort herrschende Toleranz und die auf exakter Naturbeobachtung beruhende Verbindung reiner und angewandter Forschung seine besondere Prägung.
Seit 1748/49 lebte er in Paris. Der vom Onkel ererbte Reichtum und Adel erlaubte ihm, ein großes Haus zu führen, in dem die bedeutendsten Wissenschaftler (vor allem Chemiker, Ärzte, Ingenieure) und Schriftsteller sich regelmäßig zweimal in der Woche trafen und nach Paris reisende Gelehrte, Fürsten, Dichter und Künstler aus ganz Europa zu Gast waren, angezogen nicht zuletzt auch durch die noble Gesinnung und menschliche Güte des Hausherrn. Lebenslänglich befreundet war er mit Denis Diderot, dem Begründer der Encyclopédie, und mit dem Regensburger Pfarrerssohn Friedrich Melchior Grimm, dem Herausgeber der an zahlreichen europäischen Höfen zirkulierenden Correspondance littéraire, philosophique et critique.
Seine erste schriftstellerische Tätigkeit in den 50er Jahren – als Übersetzer von Werken führender Chemiker und Mineralogen ins Französische (unter anderem Neri, Merret, Kunckel, Wallerius, Henckel, Geliert, Lehmann, Orschall, Stahl) – trug ihm die Mitgliedschaft in 3 Akademien ein (Berlin 1754, Mannheim 1766, Petersburg 1780). Gleichzeitig begann er seine Mitarbeit an Diderots Encyclopédie (ab Band 2), zu der er über 1100 Artikel beitrug, nicht nur über Begriffe aus den Naturwissenschaften, sondern auch aus den Mythen und Glaubensvorstellungen kleiner und großer Völker aller Erdteile. Die Informationen darüber entnahm er seiner circa 3000 Bände zählenden Bibliothek. Höchstwahrscheinlich hat er auch mit Geld und Einflußnahmen das (oft stockende und gefährdete) Erscheinen der Encyclopédie maßgeblich unterstützt.
In den 60er Jahren betätigte er sich heimlich, mit einem Team von Gleichgesinnten, als Herausgeber kirchenfeindlicher, aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts stammender Streitschriften, sowohl französischer Autoren wie bekannter englischer Deisten. Diese gegen die Kirche wie auch gegen die damalige Staatsordnung gerichtete Tätigkeit krönte er mit seinem Hauptwerk ›Système de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral‹, 1770 unter dem Pseudonym Mirabaud und mit der (fingierten) Angabe von London als Druckort erschienen und trotz Verbot und Verbrennung immer wieder neu gedruckt, bekämpft von rund anderthalb Dutzend Gegenschriften.
Die Hauptgedanken des ›Système de la nature‹ lauten: Aus der Materie und ihrer Bewegung, die allein existent sind, entspringen die Erscheinungsformen und Eigenschaften der Dinge und auch der Mensch mit seinem Fühlen und Denken. Die Seele ist nur ein Name für Eigenschaften der Materie; im Gehirn treffen alle Nerven, das heißt alle Organe der sogenannten Seelentätigkeit, zusammen. Ideen und Instinkt werden uns nur durch die Sinne, Erziehung und Gewohnheit gegeben; es gibt weder Willensfreiheit noch persönliche Unsterblichkeit. Getrieben von Selbstliebe, strebt der Mensch nach Glück und Selbsterhaltung. Der Glaube an Götter stammt aus der Furcht des über die Natur und ihre Gesetze nicht aufgeklärten Menschen. Aufklärung, gute Gesetze und Erziehung werden den Menschen aus der Knechtung durch Kirche und Despoten befreien.
Diese Gedanken seines Hauptwerks, das von Friedrich dem Großen scharf angegriffen und von Goethe zurückgewiesen wurde, werden in seinen (ebenfalls anonym erschienenen) späteren Werken über Fragen der Politik und der Moral (1773 und 1776) weitergeführt. H. ist im Kern ein philosophischer Einzelgänger und in seinem Denken ichbezogen und standesgebunden. […]
Von Umstürzen wollte er nichts wissen, Rettung erwartete er von »weisen Fürsten«. Seine ›Ethocratie‹ (1776) widmete er Ludwig XVI. Kein Wunder, daß ihm reale politische Wirkung versagt blieb, auch und gerade während der Französischen Revolution, wo seine Schriften wenig genannt werden, während Rousseau als Ahnherr beschworen wird.
H. ließ alle seine Werke, auch seine Übersetzungen naturwissenschaftlicher Werke, anonym oder unter Pseudonymen erscheinen, eine für seine Staats- und religionsfeindlichen Schriften notwendige Vorsichtsmaßnahme, die aber die Unsicherheit seiner Autorschaft in vielen Fällen zur Folge hat.
Im 19. und 20. Jahrhundert geht die Saat von H.s Gedanken da und dort immer wieder auf. In Deutschland sind die bibelkritischen Forschungen der sogenannten Tübinger Schule zu nennen, in denen ein Nachhall der bei H. konzentrierten Religionskritik im theologischen Raum verspürt werden kann. […] Vor allem aber haben sich Karl Marx und Friedrich Engels gründlich und kritisch mit H.s religiösen, politischen und wirtschaftlichen Ideen beschäftigt. […] In England wirkt H. vor allem auf den jungen Shelley ein, der 1812 das ›System der Natur‹ mit Begeisterung liest und sogar übersetzen will und Gedanken dieses Buches in seinen Werken von ›Queen Mab‹ bis zum ›Prometheus Unbound‹ dichterisch verarbeitet. In Frankreich waren es die sogenannten Ideologen und später Auguste Comte, die die Religionskritik H.s zu einem Gedankengut ausbauten, das für das französische Freidenkertum des 19. und 20. Jahrhunderts gültig und bezeichnend wurde und nach England, Deutschland und Rußland weiterwirkte. […]
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