Allgemeine Zeitschrift für Philosophie: Heft 37.1/2012

Die Allgemeine Zeitschrift für Philosophie eröffnet den Jahrgang 2012 mit einem Heft zu Themen vor allem aus der praktischen Philosophie. Anhand der Frage, unter welchen Bedingungen eine Lüge gegebenenfalls gerechtfertigt erscheinen mag, zeigt Guido Löhrer, dass moralische Fragen sich kaum durch Handlungstypologien mit fixer Valenz-Zuweisung entscheiden lassen, sondern jeweils die Berücksichtigung und Bewertung von Handlungsaspekten erfordern. Sven Walter setzt die Debatte um Freiheit und Determinismus fort und plädiert – gestützt u. a. auf sozialpsychologische Befunde – für einen moderaten skeptischen Kompatibilismus. Konrad Lotter wirft einen neuen Blick auf Marx’ Geschichtsphilosophie und entdeckt einen Theoretiker der Dekadenz avant la lettre. Hartmut von Sass erörtert Vergleichsverfahren als besonderen Beschreibungsmodus in der Spätphilosophie Wittgensteins. Christoph Hennig diskutiert einige Unklarheiten in Axel Honneths Anerkennungstheorie und ihren systematischen Grund. Lars Leeten kritisiert Honneths ›Recht der Freiheit‹.

Inhalt:

Vorwort des Herausgebers

Abhandlungen:

• Guido Löhrer: Ist es manchmal richtig, unaufrichtig zu sein? Zur moralischen Valenz der Lüge
  Abstract

  (1) Eine Lüge ist eine gegenüber einer anderen Person gemachte unaufrichtige Behauptung mit der Absicht, diese andere Person glauben zu machen, das Behauptete sei wahr und der Behauptende halte es ebenfalls für wahr. (2) Lüge im moralisch relevanten Sinn ist nicht als Handlungstyp, sondern als Handlungsaspekt mit einer negativen moralischen Valenz zu betrachten. (3) Holismus in der Festlegung der Valenz der Aspekte sollte nicht mit Nicht-Additivismus bei der Bestimmung der Gesamtvalenz kombiniert werden; und vice versa. (4) Wenn es eine wahre Beschreibung einer Handlung als Lüge gibt, ist die Handlung im Prima-facie-Sinn moralisch falsch. (5) Wenn es manchmal richtig ist zu lügen, so ist dies dann der Fall, wenn anderen Aspekten mit positiver Valenz bei einer Handlung, die zutreffend auch als Lüge beschrieben werden kann und pars pro toto so benannt wird, alles in allem größeres Gewicht zukommt.
• Sven Walter: Freiheit und Kontrolle. Plädoyer für einen moderaten skeptischen Kompatibilismus
  Abstract

  In der Debatte zwischen Philosophen und Kognitionswissenschaftlern um unsere Freiheit vermitteln einige Philosophen den Eindruck, wir hätten, was unsere Freiheit angeht, von den empirischen Befunden der Kognitionswissenschaft grundsätzlich nichts zu befürchten, während manche Kognitionswissenschaftler suggerieren, unsere Unfreiheit sei aufgrund der üblicherweise diskutierten empirischen Befunde bereits eine ausgemachte Sache. Welche empirischen Befunde eine Einschränkung unserer Freiheit bedeuten und in welchem Maß eine solche Einschränkung tatsächlich stattfindet, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die dafür argumentiert, dass Studien aus der empirischen Sozialpsychologie einen moderaten skeptischen Kompatibilismus nahe legen: Freiheit mag mit dem Determinismus vereinbar sein, und trotzdem mögen wir seltener und in einem geringeren Maß frei sein, als es unsere Selbstwahrnehmung suggeriert, weil die für Freiheit notwendige Kontrolle und normative Einbettung eingeschränkt ist.
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Berichte und Diskussionen:

• Konrad Lotter: Marx als Theoretiker der Dekadenz
  Abstract

  Von den vier »progressiven Epochen« der ökonomischen Gesellschaftsformationen, die Marx unterscheidet, sind tatsächlich nur die ersten drei in die nächst höhere eingemündet. Mit dem gescheiterten Umschlag in den Sozialismus fehlt der vierten Gesellschaftsformation, der bürgerlichen Gesellschaft, der Orientierungspunkt, von dem aus ihre Entwicklung post festum als Fortschritt zu begreifen und darzustellen wäre. Der verschärfte und nicht gelöste Widerspruch zwischen ihren fortschreitenden Produktivkräften und den stagnierenden Produktionsverhältnissen leitet einen Prozess des Niedergangs ein, der von der Ökonomie und ihren verselbständigten und vom Menschen nicht beherrschten Sachzwängen ausgeht und sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausdehnt. Marx’ Kritik der politischen Ökonomie wird als Theorie der Dekadenz rekonstruiert, in der der von Bourget und Nietzsche im Anschluss an Baudelaire entwickelte Begriff der (ästhetischen) Dekadenz vorweggenommen ist.
• Hartmut von Sass: Komparativ / deskriptiv. Wittgenstein und die Suche nach Vergleichsobjekten
  Abstract

  Wittgenstein stellt sein Spätwerk als rein deskriptive Philosophie vor. Ein Mittel, um die Reinheit der Beschreibungen gewährleisten zu können, bietet die facettenreiche Sprachspiel-Analogie. Weit weniger Aufmerksamkeit hat jedoch die Tatsache gefunden, dass Wittgenstein zugleich ein Philosoph des Vergleichs ist, woraus sich die Frage ergibt, wie sich Beschreibungen und Vergleiche zueinander verhalten. Ausgehend von dem Umstand, dass Sprachspiele selbst komparativ strukturiert sind, wird der Vergleich als spezifischer Beschreibungsmodus charakterisiert, um eine Klassifikation deskriptiver Vergleiche vorzuschlagen.
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• Christoph Hennig: Normativer Überdruck. Über einige Unklarheiten in Axel Honneths Anerkennungstheorie und ihren systematischen Grund
  Abstract

  Seit dem Erscheinen von Kampf um Anerkennung hat Axel Honneth wesentliche Bestandteile seiner Theorie wiederholten Revisionen unterzogen. Die Veränderungen zeigen grundlegende Probleme des Theorieaufbaus an. Honneths sukzessive Erweiterungen des ursprünglichen Ansatzes haben jedoch die Probleme keiner Lösung zugeführt, sondern neue Schwierigkeiten geschaffen. Das gilt vor allem für die Begründung sozialer Anerkennungskämpfe und die kategoriale Fassung des Anerkennungsbegriffs selbst. Der systematische Grund für die konzeptionellen Mängel liegt in der moralischen Überlastung des Anerkennungskonzepts. Da es in Honneths Sichtweise die normativen Grundlagen von Gesellschaftskritik begründen soll, wird es von »unmoralischen« Aspekten, von Widersprüchen und Ambivalenzen gereinigt. Damit aber erweist es sich als untauglich zur empirischen Analyse der sozialen Realität. Zugleich entstehen kategoriale Bruchlinien im theoretischen Konzept.

Buchbesprechung:

• Lars Leeten: Gerechtigkeit als Erfüllung von Freiheitsversprechen? Axel Honneths Wiederbelebung von Hegels Rechtsphilosophie (zu Axel Honneth, Das Recht der Freiheit).Artikel kaufen