Adolf von Harnack
evangelischer Theologe,
* 7.5.1851 Dorpat,
† 10.6.1930 Heidelberg.
H. verließ nach 7 Semestern theologischen Studiums im Herbst 1872 die Universität Dorpat, um in Leipzig zu promovieren und sich zu habilitieren. Er hielt hier von 1874 an, seit 1876 als außerordentlicher Professor, kirchengeschichtliche Vorlesungen. Gleichzeitig trat er mit 30 eigenen Arbeiten und rund 60 Rezensionen, fast ausschließlich aus der alten Kirchengeschichte, an die Öffentlichkeit. In Leipzig fand er an seinen Kollegen Julius Kaftan, Emil Schürer, Wolf Graf Baudissin und Oskar von Gebhardt sowie an seinen ersten Schülern, den Mitgliedern seiner »kirchengeschichtlichen Gesellschaft«, Martin Rade, Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs, William Wrede, Paul Drews und Caspar René Gregory, einen Freundeskreis, der in steter Verbindung mit ihm die wissenschaftliche Theologie eines halben Jahrhunderts maßgebend prägte. Dem Leipziger Kreis gemeinsam war neben der strengen historischen Arbeit der befreiende Eindruck, den damals die Theologie A. Ritschls übte. H. arbeitete mit Gebhardt (und Th. Zahn) an einer Ausgabe der Apostolischen Väter. Die Redaktion der von ihm und Schürer 1876 begründeten »Theologischen Literaturzeitung« teilte er mit dem Freunde von 1881 bis 1910. Mit Gebhardt eröffnete er 1882 die Reihe der ›Texte und Untersuchungen zur altchristlichen Literatur‹. Aus dem Schülerkreis entstand 1886/87 die Zeitschrift »Christliche Welt«, der H. bis zu seinem Tode besonders eng verbunden blieb.
Die Berufung auf ein Ordinariat nach Gießen führte ihn 1879 in eine erheblich verjüngte Fakultät, die bald als Hochburg des »Ritschlianismus« galt. Die Gießener Jahre brachten H.s vielbeachteten Vortrag über das Mönchtum (1881) und die Festrede zu Luthers 400. Geburtstag (1883). Die Frucht seiner Arbeit war das 3bändige Lehrbuch der Dogmengeschichte (1886/87/90), das in der wissenschaftlichen Welt großes Aufsehen erregte.
Die Bemühungen des Berliner Kultusministeriums, H. für eine preußische Universität zu gewinnen, kamen 1886 mit der Annahme des Rufes nach Marburg zum Ziel. Schon im folgenden Jahr schlug ihn die theologische Fakultät in Berlin einstimmig für das wiederzubesetzende kirchengeschichtliche Ordinariat vor. Der Widerspruch des [Evangelischen] Oberkirchenrates und die Agitation der kirchlich und politisch konservativen Zeitungen führten zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Kirchenbehörde und Ministerium und damit zu einem ersten »Fall Harnack«, dem noch weitere folgen sollten. Schließlich gab Kaiser Wilhelm II. auf Bismarcks energische Vorstellung den Ausschlag im Sinne der Fakultät. H. gehörte ihr von 1888 bis zu seiner Emeritierung 1921 an.
Die zweite Lebenshälfte H.s ist ausgefüllt durch eine vielseitige, die Pflichten seines Lehramtes und den Bereich der Theologie weit überschreitende Tätigkeit. Die Preußische Akademie der Wissenschaften wählte ihn 1890 zum ordentlichen Mitglied. Sie beauftragte ihn sogleich, eine kritische Ausgabe der ›Griechischen christlichen Schriftsteller der drei ersten Jahrhunderte‹ vorzubereiten. Als Bestandsaufnahme für diese Arbeit verfaßte Harnack die ›Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius‹ (I: 1893; 11, 1: 1897; II, 2: 1904; der geplante 3. Band wurde nicht geschrieben). Die Neue Folge der ›Texte und Untersuchungen‹ stellte H. als »Archiv« in den Dienst der Kirchenväterausgabe. Er wurde Vorsitzender der von ihm geschaffenen Kirchenväterkommission. Die 3bändige Geschichte der Akademie schrieb H. zu ihrem 200jährigen Jubiläum 1900.
1906-21 war er im Nebenamt Generaldirektor der Königlichen Bibliothek (der späteren Preußischen Staatsbibliothek). 1903-11 führte er den Vorsitz des Evangelisch-sozialen Kongresses auf einer Linie »zwischen Stöcker und Naumann«. Die 1911 ins Leben gerufene Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beruhte auf H.s Gedanken; bis zum Tode war er ihr Erster Präsident. Er erhielt Zugang zum Hofe und zur Hofgesellschaft. Friedrich Althoff zog ihn zur Mitarbeit an hochschul- und schulpolitischen Aufgaben heran.
Den vielen neuen Anforderungen folgten hohe Ehrungen: die Erhebung in den erblichen Adelsstand, zahlreiche Ehrenpromotionen, Ehrenpräsidentschaften und -mitgliedschaften. H. war als erster und einziger Theologe Ritter, Vizekanzler und Kanzler des Ordens pour le mérite für Wissenschaften und Künste.
Kirchenpolitische Konflikte brachen aus, als H. 1892 seine – übrigens längst bekannte – Meinung zum gottesdienstlichen Gebrauch des Apostolicum vortrug. Das Ergebnis war die Errichtung einer »Strafprofessur« an der Berliner Fakultät und ihre Besetzung mit Adolf Schlauer. Anstoß erregten auch H.s öffentliche Vorlesungen des Wintersemesters 1899/1900 über ›Das Wesen des Christentums‹ (1900 als Buch, bis 1927 in 14 deutschen Auflagen mit 71 000 Exemplaren und in 14 Sprachen übersetzt; [In der 15. Auflage] 1950 mit Geleitwort von R. Bultmann). Weitere »Fälle Harnack« brachten die Jahre 1911 und 1912, als er zur Maßregelung zweier preußischer Pfarrer Stellung nahm.
Seit der Berufung nach Berlin gewann H. neue Freunde: Theodor Mommsen, Gustav Schmoller, später Nathan Söderblom und Johannes Müller-Elmau. Jahrzehnte währte der ständige Austausch mit dem Schwager H. Delbrück, nur wenige Jahre das Gespräch mit Ernst Troeltsch. Der Kaiser vermittelte die Begegnung mit Houston Stewart Chamberlain, dessen Wagnerverehrung und Rassentheorie H. jedoch ablehnte. Zu den Berliner Schülern gehören neben Karl Holl, Heinrich Scholz und Hans Freiherr von Soden auch Otto Dibelius und Dietrich Bonhoeffer.
Trotz der Fülle von Beziehungen, Interessen, Anforderungen und Belastungen fand H. Zeit zu ausgedehnter Korrespondenz und zahlreichen wissenschaftlichen Reisen, zu wissenschaftlichen und gemeinverständlichen Publikationen. Seine wichtigsten Reden und Aufsätze wurden seit 1904 in sechs Sammelbänden (und einem postum erschienenen 7. Band) nachgedruckt.
Dem Kriegsausbruch 1914 und dem totalen Ausmaß seiner Rückwirkungen stand H. tief erschüttert gegenüber. Doch bald nahmen ihn viele neue Aufgaben so in Anspruch, daß er, der sich ausdrücklich als konservativ bezeichnete, Abstand von den Dingen und neue Maßstäbe für sie gewann. Entscheidendes verdankt er dabei Delbrück; mit ihm und Männern wie Troeltsch und Meinecke traf er sich schließlich, trotz aller Nuancen im Einzelnen, in der Verurteilung des Annexionismus der sogenannten Vaterlandspartei und in der Forderung nach innenpolitischen Reformen. Diese Entwicklung H.s, die ihn nach 1918 zur Bejahung der republikanischen Staatsform führte, ist ihm von Freunden und Feinden als »Verrat« zur Last gelegt worden. […] Bösartige Ausfälle der Rechtspresse und das Befremden weiter Kreise, auch mancher Freunde und Kollegen, waren die Antwort, als H. bei der Reichspräsidentenwahl 1925 gegen Hindenburg für den Katholiken Marx eintrat.
Auch nach der Emeritierung blieb H. in verantwortungsvollen Aufgaben tätig. Er leitete den Hauptausschuß der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft führte er mit Erfolg durch die Jahre der Inflation, er erreichte ihren finanziellen Fortbestand und ihren organisatorischen Ausbau. Sie ehrte ihn, indem sie 1929 ihr Gesellschafts- und Gästehaus in Dahlem, ein wichtiges Zentrum gelehrten Austausches, »Harnack-Haus« nannte. Zum 70. Geburtstag 1921 wurden ihm drei Festschriften, drei Sonderhefte von Zeitschriften und drei Bücher gewidmet. Die theologische Entwicklung der Nachkriegszeit verfolgte H. mit Sorge. Er fand sich plötzlich in der unmittelbaren Zielrichtung einer theologischen Kritik, die im Namen der Offenbarung und des Wortes Gottes jenen optimistischen Glauben an »die« Wissenschaft grundsätzlich bestritt, den er mit seiner Zeit teilte. Mit seiner Überzeugung, das Christentum könne sich in der modernen Welt nur bewähren, indem es Verantwortung für diese Welt und ihre Kultur übernehme und sinnvolles, sittlich bestimmtes Leben in ihr ermögliche, mit seinen Leitbildern von »Protestantismus und Kultur«, »Christentum als Kulturmacht« ist er ein Kind seiner Epoche geblieben. Von hier aus war in der Tat kein Zugang zu Karl Barth und zur dialektischen Theologie zu gewinnen. H. konnte das Pathos der auch gegen ihn gerichteten theologischen Konzentrationsbewegung nicht verstehen. Vielmehr befürchtete er als Folge ihres »herostratischen Werks« den Verfall des mühsam erreichten wissenschaftlichen Niveaus und die Herrschaft eines neuen Dogmatismus in der evangelischen Theologie. […] Harnacks letzte große Monographie über Marcion (1921), die auch die Bedenken ihm nahe stehender Gelehrter erregte, darf als sein persönliches Bekenntnis in der theologischen Nachkriegssituation verstanden werden. Dieses Buch enthält den – vielleicht noch unbewußten – Verzicht auf den Anschluß »nach vorn«.
Die Bedeutung H.s für die evangelische Theologie liegt vor allem in seinen Arbeiten zur alten Kirchengeschichte und in seinem epochemachenden Konzept der Dogmengeschichte. Seine Grundthese, das dogmatische Christentum sei »… ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums«, seine Behauptung, auch Luther habe das Christentum dogmatisch, und das heißt als Denker »mittelalterlich« verstanden, und die Folgerung, die Dogmengeschichte biete »das geeignetste Mittel, um die Kirche von dem dogmatischen Christentum zu befreien«, ist vielfach mit Recht bestritten worden. Viele Einzelheiten hat die Forschung inzwischen besser erkannt. Doch ist das Werk bis heute durch keine ausgeführte Darstellung gleichen Ranges überzeugend ersetzt worden. Neben der historischen Akribie ist für H. das Streben nach Vereinfachung, nach undogmatischer, lebendig-intuitiver Synthese, nach »wiedergewonnener Naivität« charakteristisch. Die von H. in aller Zeitgebundenheit intendierten und formulierten Aufgaben sind mit den Einwänden der dialektischen Theologie nicht einfach erledigt, sondern bedürfen einer fortdauernden, wenn auch differenzierteren Bemühung. Diese Erkenntnis ist in der theologischen Arbeit seit dem 2. Weltkrieg insofern zum Zuge gekommen, als sie – quer durch alle Richtungen und Schulen hindurch – die abgerissenen Fäden wieder aufgenommen hat. Weit über sein Fachgebiet hinaus hat H. mit seiner Einsicht in die Erfordernisse des modernen wissenschaftlichen »Großbetriebs« sowie mit der von Anfang an ausgeprägten Fähigkeit, kollegiale Forschungsarbeit zu organisieren, Mitarbeiter zu gewinnen und anzuleiten und die notwendigen Institutionen und Techniken zu schaffen, das Beispiel eines universalen Gelehrten gegeben, dessen Wirkungen und Anregungen fortdauern.
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