Der Begriff der Perspektivität geht heute weit über die reine Wahrnehmung hinaus. Er hat den Status einer absoluten Metapher angenommen, wonach alles Denken und Verstehen historisch, individuell und sozial »perspektiviert« ist. Zugleich aber zeigen Reflexionen auf den Film, auf Politik, Ethik und auf die Sprache, dass Perspektiven erst in ihrem Zusammenspiel – und mehr noch: vor allem in ihrer Konfrontation – zum Welt- und Selbstverstehen beitragen.
Die Beiträge des Themenheftes gehen dieser intrinsischen Spannung der Perspektive nach, ihrem Schwanken zwischen Öffnung und Beschränkung, Stabilität und Überschreitung. Neben der Frage nach dem Ort der Perspektivität in der philosophischen Tradition (etwa bei Leibniz) fokussieren die Beiträge auf die politische Dimension des Perspektivismus sowie auf den Film als das Medium der Perspektivität par excellence .
Jörg Volbers : Perspektivität ist kein »Käfig«. Eine kurze Einführung in den Schwerpunkt
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Lars Leeten : Was verlangt die Perspektivität vom Erkennen? Zum Umgang mit endlichen Horizonten
Zusammenfassung Dieser Artikel fragt, was es heißen kann, einer irreduziblen Perspektivität in epistemischen Praktiken Rechnung zu tragen. Zugrunde gelegt wird, dass Perspektivität auch im Bereich des Epistemischen nicht einer logisch-begrifflichen, sondern primär einer sinnlich-ästhetischen Logik unterliegt. Entwickelt wird diese Logik im Ausgang von Merleau-Pontys Wahrnehmungsphänomenologie. Vor diesem Hintergrund werden vier Aspekte entwickelt, die eine unaufhebbare Perspektivität dem Erkennen abverlangt: unabschließbare Bewegung, notwendige Horizonterweiterungen, Ertragen von Spannungen und die Möglichkeit anderer Horizonte. Sobald
sich die Erkenntnispraxis von der traditionellen Idee einer endgültigen Einsicht in die »Sache selbst« löst, wie sie in den Begrifflichkeiten der Erkenntnistheorie überdauert, muss sie sich als ein konkretes innerweltliches Unternehmen begreifen, das ständig mit der Möglichkeit umzugehen hat, dass sich die Welt vielleicht besser, neu oder ganz anders verstehen ließe.
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Susanne Schmetkamp : Ästhetische Erfahrung als Perspektivenwechsel
Zusammenfassung Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, das Potenzial der ästhetischen Erfahrung für Perspektivenwechsel herauszuarbeiten. Sie ist eine der wichtigsten Quellen der Möglichkeit,
der Reflexion und der Erweiterung von Perspektiven. Genauer ist es, so die hier vertretene These, die ästhetische Erfahrung, die als ästhetische den Blickwechsel, das Umkehren oder Verändern gewohnter, möglicherweise falscher Perspektiven und das Aufzeigen neuer Perspektiven impliziert. Dabei liegt ein entscheidender Unterschied zu unseren sonstigen Praktiken, in denen wir uns auch auf andere Perspektiven einlassen (müssen,) darin, dass es sich im Ästhetischen um ein Spiel mit Perspektiven handelt, bei dem wir als Rezipienten und in gewisser Weise Teilnehmerinnen epistemisch und moralisch entlastet sind. Der Film wird als paradigmatisches Medium solch ästhetischen Perspektivenwechsels diskutiert.
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Nicolas Oxen : Politiken der »prehension« – Agnès Vardas Essay-Filme und Alfred N. Whiteheads Prozessphilosophie
Zusammenfassung Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit Agnès Vardas Die Sammlerin und die Sammler
(2000), einem Film, der nicht nur Sammler porträtiert, sondern selbst ein sammelnder Film ist, der sich in essayistischer Form entwickelt und in dem auch Varda mit ihrem kleinen Camcorder in der Hand Bilder sammelt. Mit dem Begriff der prehension (dt. »Erfassen«) beschreibt Alfred N. Whitehead in seiner Prozessphilosophie Formen einer körperlichen, nicht-repräsentationalen Wahrnehmung und entwickelt mit diesem Begriff ein prozessmetaphysisches Konzept von Relationalität. Einer medienphilosophischen Perspektive folgend, geht es in diesem Aufsatz darum, Vardas Film und Whiteheads Begriff der prehension in experimenteller Weise aufeinander
zu beziehen. Dadurch sollen die filmästhetischen und politischen Aspekte von Agnès Vardas Filmpraxis und deren Arbeit an Relationen herausgearbeitet und Whiteheads Begriff der prehension für (medien-)philosophische Fragen anschlussfähig gemacht werden.
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Sybille Krämer : Was bedeutet »Perspektivität«? Eine Erörterung mit Blick auf Leibniz
Zusammenfassung Die philosophische Idee der Perspektivität zehrt von zwei wohl zu unterscheidenden Kulturtechniken des Darstellens: Einerseits der zentralperspektivischen Maltechnik einer fingierten Dreidimensionalität, die mit der geometrischen Projektion aus dem Blickpunkt der Bildbetrachter arbeitet. Andererseits dem kartographischen Prinzip der Wissensvisualisierungen in Form von Karten, Diagrammen und Schemata, die flächige Strukturbilder ohne fingierte Dreidimensionalität aus dem Überblick einer Vogelflugperspektive zeigt. Die zentralperspektivische Darstellung verkörpert die Erste-Person-Perspektive, die kartographische Darstellung dagegen die Dritte-Person-Perspektive. Dass Leibniz – zentriert in seiner Monadenlehre – die Perspektive als philosophisches Konzept einführte ist wohlbekannt: Die Monaden erzeugen unablässig standortbezogene Repräsentationen des ganzen Universums.
Weniger bekannt allerdings ist, wie Leibniz in der Entfaltung seines Konzeptes der
Perspektivität auf das Zusammenspiel beider Formen von Perspektive rekurriert um zu zeigen, warum Perspektivität und Allgemeingültigkeit sich nicht aus-, sondern einschließen. Dies hat weitreichende Implikationen für das Verständnis der Leibniz’schen Metaphysik und Epistemologie.
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Oliver Marchart : Für einen parteilichen Universalismus. Radikale Demokratie zwischen Pluralismus und Antagonismus
Zusammenfassung Der Artikel geht dem Verdacht nach, dass sich hinter dem liberal-demokratischen
Perspektivismus, der unter dem politischen Titel des Pluralismus firmiert, nichts anderes verbirgt als eine ›real existierende‹ Oligarchie, die in der Erzählung von Pluralismus ihre eigene Form des Fundamentalismus gefunden hat. Sieht man die Alternative hierzu nun nicht umgekehrt in Autoritarismus und Monoperspektivität, muss dem liberalen Scheinpluralismus eine demokratiepolitische Alternative entgegengestellt werden, die ein in Demokratien unverzichtbares Maß an Pluralität bewahrt, ohne der ideologischen Deckerzählung des Pluralismus aufzusitzen. Der Beitrag stellt sich die Aufgabe, einen Pluralitätsbegriff zu entwerfen, der kein liberaler ist und eine affirmative Bezugnahme auf die Instanz des Politischen, also des Antagonismus erlaubt. Im kritischen Durchgang durch zwei Varianten der sogenannten agonistischen Demokratietheorie wird dieser Aufgabe nachgegangen. Zunächst wird die arendtianisch-nietzscheanische Spielart (bei Hannah Arendt selbst, sowie bei William Connolly) auf deren Verhältnis zu Pluralität/Perspektivität und Konfliktualität hin befragt. In einem zweiten Schritt wird sie mit der postmarxistischen Spielart konfrontiert, die u.a. mit Chantal Mouffe, Ernesto Laclau und Étienne Balibar assoziiert wird. Zur Lösung des Problems, wie ein nicht-pluralistischer Pluralitätsbegriffs vorgestellt werden könnte, wird schließlich ein demokratischer Universalismus vorgeschlagen, mit dem Pluralität im Sinne von Parteilichkeit bestimmbar wird.
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