Obwohl die griechische Sophistik lange schon nicht mehr als bloße Wortverdrehungskunst gilt, wird sie weiterhin in ein Kontrastverhältnis zur Philosophie gesetzt: Sie wird als Randerscheinung wahrgenommen, die philosophisches Denken zwar herausfordert, der es aber an eigener intellektueller Dignität fehlt. Die Beiträge des Schwerpunkts nehmen das Thema erneut auf und fragen nach der aktuellen Bedeutung dieser Bewegung. Dabei kristallisiert sich heraus, dass das sophistische Denken zutiefst einem Primat des Praktischen verpflichtet ist und auf dem Feld der Politik, des Rechts und der Ethik sein angestammtes Feld hat. Die Sophistik ist nicht nur eine Protophilosophie mit bestenfalls historischer Bedeutung, sondern eine praktisch orientierte intellektuelle Kultur, die sich in der Philosophie auf andere Weise fortsetzt.
Helmut Heit : Protagoras und der Relativismus als epistemische Tugend
Abstract Dieser Text argumentiert, dass Protagoras’ Konzept von Lehre, im Unterschied zum platonischen Ideal verlustfreier Übertragung kognitiver Erkenntnis, nicht am Paradigma
der axiomatischen Geometrie orientiert ist, sondern versucht, Tugend und Urteilskraft durch Prozesse der Abwägung, Einsicht, Nachahmung und Übung zu entwickeln. Entsprechend verbinden sich auch in seiner Epistemologie ein moderates Relativitätsbewusstsein mit der Präferenz für Theorienproliferation, ohne den Anspruch auf graduell bessere logoi aufzugeben. Protagoras’ Position lässt sich so gegenüber den Vorbehalten von Platon bis Boghossian als systematisch attraktive und tugendhafte epistemische Einstellung verstehen und verteidigen.
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Karen Piepenbrink : »Sophistische« versus »demokratieaffine« rhetorische Strategien? Überlegungen am Beispiel Antiphons von Rhamnus aus althistorischer Perspektive
Abstract Über das Phänomen »sophistischer« Rhetorik ist in der philosophischen wie der
philologischen Forschung intensiv diskutiert worden. Der vorliegende Beitrag nähert
sich der Thematik aus althistorischer Perspektive. Er fragt, inwieweit wir »sophistische«
rhetorische Strategien in tradierten öffentlich gehaltenen Reden identifizieren können, und vergleicht mögliche Indizien auf derartige Vorgehensweisen mit solchen rhetorischen Strategien, die aus Sicht der Zeitgenossen definitiv »demokratieaffin« waren. Dabei geht es nicht um die Perzeption durch Philosophen wie Platon und Aristoteles, sondern um die Wahrnehmung seitens der breiten Öffentlichkeit im klassischen Athen. Als Beispiele für eine von den Athenern als »sophistisch« etikettierte Rhetorik nimmt der Aufsatz die forensischen Reden Antiphons von Rhamnus in den Blick. Der Beitrag gelangt zu dem Resultat, dass eine Differenzierung rhetorischer Strategien dergestalt, wie sie von jenen Zeitgenossen insinuiert
wird, nicht adäquat ist. Die Argumentationen Antiphons gehen über weite Strecken konform mit dem demokratischen Verständnis von angemessener Rede. Abweichungen von diesem sind nur zum Teil auf die Rezeption »sophistischer« Philosopheme zurückzuführen und entsprechen auch nur partiell der verbreiteten Sophistenkritik.
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Lars Leeten : Antilogik und Dialektik. Entwicklungslinien vorplatonischer Bildungskultur
Abstract Der Beitrag betont eine enge Verbindung zwischen der sokratischen Dialektik und
der als »Antilogik« bekannten sophistischen Diskurspraxis. Zunächst werden traditionelle
Deutungen zurückgewiesen, wie etwa das Vorurteil, die Antilogik sei eine wahrheitsindifferente Eristik, die allein auf Überwältigung des Gegners zielt. Um eine alternative Perspektive zu entwickeln, wird die Lehrpraxis der widerstreitenden Reden in den Kontext des diskursiven Klimas ihrer Zeit eingeordnet. Vor diesem Hintergrund wird die Antilogik als Bildungspraxis erkennbar, die durch Erzeugung von Widersprüchen den »richtigen Logos« zu bestimmen versucht. Im Ergebnis werden so Kontinuitäten zwischen Antilogik und Dialektik sichtbar, die auch ein Licht auf die Differenzen zwischen ihnen werfen.
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Morten S. Thaning / Johan Gersel : Pseudoerzieherische Diskurspraxis. Platons Verständnis der Sophistik
Abstract Dieser Artikel zielt auf die Rekonstruktion der normativen Unterscheidung zwischen Sophistik und Dialektik, die Platon in seiner Behandlung der Sophistik entwickelt. Den Ausgangspunkt bildet die Beschreibung von Platons Verständnis von Sophistik als einer Geschicklichkeit der Überredung, die sich als wahrheitsorientiert ausgibt und ihren Adressaten zu gefallen weiß. Im Anschluss wird die Stringenz von Platons Argumentation verdeutlicht, indem seine Bestimmung der Sophistik zum Leitfaden für die Interpretation der Dialoge Protagoras und Gorgias gemacht wird. Gemeinsam liefern diese Dialoge ein wohlstrukturiertes Argument, das den Nutzen der sophistischen Kunst, trotz ihrer Effektivität als Machtmittel in den Institutionen der attischen Demokratie, in Frage stellt. Diese grundlegende Kritik der Sophistik unterscheidet sich von bestimmten irreführenden Vorurteilen
gegenüber der Sophistik, die man ebenfalls in Platons Schriften findet und die durch die historische Forschung in Frage gestellt wurden. Daher ist die Kritik von bleibender Relevanz nicht nur für das Verständnis von Platons philosophischer Agenda, sondern auch für die Interpretation »der Sophisten«. Der Artikel schließt mit Überlegungen zur Relevanz von Platons normativer Unterscheidung zwischen Sophistik und Dialektik für gegenwärtige Konzeptionen demokratischer Diskurskulturen und ihrer Legitimität.
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Thomas Schirren : Isokrates und die Rechtfertigung des rhetorischen Lebens
Abstract Isokrates verteidigt in der Antidosis seine Rednerschule gegen die Kritik sophistischer Geldmacherei, indem er paradigmatische Argumente bringt, die den Nutzen der Schule für das Gemeinwohl belegen. Darin setzt er sich auch entschieden vom moralischen Diskurs der Platonischen Akademie ab. Das »Dargelebte« der leuchtenden Beispiele aus seiner Schule schafft eine symbolische Form, die freilich Platon in seiner Apologie des Sokrates geprägt hat. Isokrates versetzt diese mitten in die Polis.
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Essay:
Buchbesprechungen:
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