Carl Hauptmann
Dichter, Naturwissenschaftler,
* 11.5.1858 Salzbrunn (Waldenburger Bergland),
† 4.2.1921 Schreiberhau (Riesengebirge).
Nach dem Besuch des Zwinger-Realgymnasiums in Breslau studierte H. seit 1880 in Jena Philosophie, Physiologie und Biologie bei K. Snell, Chr. E. Stahl, R. Eucken und besonders bei E. Haeckel, mit dem er bald freundschaftlich verbunden war. 1883 wurde er mit der Arbeit ›Die Bedeutung der Keimblättertheorie für die Individualitätslehre und den Generationswechsel‹ zum doctor philosophiae promoviert. 1884 unternahm er eine Italienreise und ging nach seiner Heirat, durch die er finanziell unabhängig geworden war, 1885 zum weiteren Studium der Philosophie und der Naturwissenschaften zu R. Avenarius und A. Forel nach Zürich. 1889 übersiedelte er nach Berlin, 1891 zog er mit seinem Bruder Gerhart in ein gemeinsam erworbenes, ausgebautes Haus nach Schreiberhau, wo Gerhart bis 1893, H. bis zu seinem Tode lebte.
H. schien zunächst für die akademische Laufbahn bestimmt zu sein. Aus den Zürcher Studien entstand sein Plan für ein 4bändiges Werk einer ›Dynamischen Theorie der Lebewesen‹, dessen 1. Teil, ›Die Metaphysik in der modernen Physiologie‹, er 1893 veröffentlichte […]. Er entwickelte hier die Gedanken seines Lehrers und Freundes Avenarius weiter und wandte sich entschieden gegen die »metaphysische Denkart« in der modernen Physiologie, vor allem gegen die Begriffe »Seele«, »Lebenskraft« und »Wille« bei der Interpretation der Lebensvorgänge.
Er versuchte, eine Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Erscheinungen nachzuweisen. Obwohl diese Erkenntnisse nach O. Pringsheim später für die Naturwissenschaft anregend wirkten, wandte sich H. schließlich von ihr ab.
Einen zweiten Teil seines Werkes (Grundzüge einer allgemeinen Biomechanik) hat er zwar noch nahezu vollendet, aber nicht mehr veröffentlicht (Manuskript Breslau, Ossolinski-Bibliothek). […]
Immer stärker spürte er, daß sein Interesse am individuellen Schicksal des Menschen durch die Generalisation der Wissenschaft enttäuscht wurde. Er löste sich allmählich von ihr, die ihm gleichwohl einen »objektiven Standpunkt« gegeben hatte, um in eigenen lebensphilosophischen Gedanken (zum Teil in dem Werk ›Aus meinem Tagebuch‹, 1900, 31929, veröffentlicht, größtenteils aber in den noch unveröffentlichten Tagebüchern niedergeschrieben) und schließlich in der Dichtung seine Ansichten vom Wesen des Menschen darzustellen. 1891 erschien dann in der »Freien Bühne« (S. 451-55) unter dem Pseudonym Ferdinand Klar seine erste dichterische Arbeit, die Erzählung ›Der Sonnenwanderer‹; 1894 folgte sein erstes Schauspiel, ›Marianne‹. Stofflich Ibsens ›Nora‹ und Gerhart Hauptmanns ›Einsamen Menschen‹ verwandt, ragte es zwar nicht aus den naturalistischen Stücken der Zeit heraus, verriet aber doch ein lange verborgenes und aus innerem Zweifel aufbrechendes dichterisches Talent. Auch das Schauspiel ›Waldleute‹ (1896), ein Schicksalsdrama in der Nachfolge Anzengrubers, zeigt noch die Abhängigkeit H.s von Vorbildern.
Mit der dramatischen Bauerntrilogie ›Ephraims Breite‹ (1900), ›Die Austreibung‹ (1905) und ›Die lange Jule‹ (1913) überwindet H. dann den Naturalismus; nicht mehr nur soziale Konflikte stehen im Mittelpunkt der Handlungen, sondern die Wesensart und die Selbstverwirklichung der Personen; »es wird nicht mehr von außen dargestellt, sondern im Ringen schlesischer Bauern wird H.s eigenes Ringen mitgestaltet« (W. Milch).
Die Thematik der Selbstverwirklichung problematischer und aus ihrer verständnislosen Umwelt herausragender Naturen beherrscht auch die großen Romane H.s: Der soziale Roman ›Mathilde‹ (1902) gestaltet bewußt in der Abkehr von Zolas literarischem Programm das harte, aber zur einsamen Selbstfindung führende Schicksal einer Fabrikarbeiterin. ›Einhart der Lächler‹ (2 Bände, 1907), der erste deutsche Künstlerroman von Rang nach Kellers ›Grünem Heinrich‹, schildert den Weg eines exotischen Malers, der Züge von H.s Neffen O. Mueller trägt, durch die Welt bis zur Selbstverwirklichung in seiner nach langer Zeit anerkannten Kunst und der Weisheit des Alters. Der Entwicklungsroman ›Ismael Friedmann‹ (1913) schließlich ist eine einfühlsame Studie in die Seele eines Halbjuden, der am Leben vorbeilebt (W. Rathenau soll Modell des Helden gewesen sein).
Neben diesen sozial-individuellen Stoffen wandte H. sich auch geschichtlichen zu, die er mythisch zu vertiefen suchte, so in den Dramen ›Moses‹ (1906) und in ›Napoleon Bonaparte‹ (1911), das in Paris erfolgreich gespielt wurde, während es in Deutschland nur wenig Anklang fand. ›Krieg, Ein Tedeum‹ (1914), das, 1913 geschrieben, den Krieg visionär vorwegnahm, sieht dessen Ursache im Verlust der Menschenliebe und fand die Anerkennung des jungen Brecht. Als Krönung seines dramatischen Schaffens sah H. die Trilogie ›Die goldnen Straßen‹ (1919) an, aus der ›Tobias Buntschuh‹ (1910) neben dem märchenhaften Schauspiel ›Die armseligen Besenbinder‹ (1913) auch Erfolg auf der Bühne hatte.
Literarhistorisch bedeutsamer als H.s Dramen und auch erfolgreicher war jedoch seine Prosa. Die Romane ›Mathilde‹ und ›Einhart der Lächler‹ und die Erzählungen seines ›Rübezahlbuches‹ (1915) wurden volkstümlich und hatten zugleich auch Einfluß auf die Entwicklung des literarischen Expressionismus. Sein nachgelassenes Romanfragment ›Tantaliden‹ (1927, entstanden 1918) gehört sprachlich »zum Kühnsten, was ›Expressionisten‹ damals geschrieben haben« (K. Briegleb).
Die Zuordnung seines Stils zu einem bestimmten Epochenbegriff ist jedoch problematisch. Zwar hat sich H. in seinen Anfängen naturalistische Elemente, später impressionistische und expressive Formen angeeignet, aber er fand doch seinen eigenen Stil, der in rhythmisch knappen Sätzen und visueller Metaphorik Realität und Oberreales vergegenwärtigt. Einen großen Einfluß auf H., der auch als Denker vom Visuellen ausging, hat der Worpsweder Kreis, zu dem er enge persönliche Bindungen besaß und in dem er seine 2. Frau kennenlernte, ausgeübt, und er hat zum Teil auch seinen anschaulich-konkreten Stil der reifen Zeit geprägt.[…]
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