Am 27. Februar 2013 wäre Paul Ricœur 100 Jahre alt geworden – ein guter Anlass, seinem philosophischen Œuvre ein Schwerpunktheft der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie zu widmen. Ricœur ist bekannt als Begründer einer hermeneutischen Phänomenologie. Doch bieten seine Schriften auch für andere philosophische Positionen und wissenschaftliche Disziplinen produktive Anknüpfungspunkte. Solche Punkte aufzuzeigen und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Ricœur einzuladen, ist das Ziel dieses Heftes. Die einzelnen Beiträge behandeln Forschungsfelder von der philosophischen Anthropologie über Sprachphilosophie, Geschichtsphilosophie und Sozialphilosophie bis hin zur Ethik. Ein beonderer Akzent liegt auf Ricœurs Philosophie des Selbst und auf dem Begriff der narrativen Identität. Um diesen geht es auch in zwei Texten von Ricœur selbst, die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen.
Paul Ricœur : Die narrative Identität
Jean Greisch : Wer sind wir? Von der Anthropologie der Fehlbarkeit zur Hermeneutik des Selbst
Abstract Ein systematischer Vergleich von Heideggers Kantbuch (1929) mit Ricoeurs Buch
›L’homme faillible‹ (1960), das seinerseits als »Kantbuch« gelesen werden kann, deckt nicht nur tiefgreifende Unterschiede in der jeweiligen Kantinterpretation auf. Er zeigt zugleich die Verwandtschaft zwischen Cassirers und Ricoeurs anthropologischem Ansatz auf. Darüber hinaus lenkt der Vergleich die Aufmerksamkeit auf die sich bereits bei Heidegger andeutende Verwandlung der Was-Frage in die Wer-Frage, die ein Gegenstück in Ricoeurs »Hermeneutik des Selbst« hat, die sich im Spätwerk zu einer Phänomenologie der menschlichen Grundfähigkeiten ausweitet.
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Andris Breitling : Weltgestaltung und sprachliche Gastfreundschaft. Sprachphilosophie und Ethik der Kommunikation nach Paul Ricœur
Abstract Ausgehend von Paul Ricoeurs hermeneutischer Phänomenologie der Sprache geht
es in diesem Beitrag einerseits darum, zu zeigen, wie die Welt der menschlichen Erfahrung durch Prozesse der sprachlichen Sinnbildung immer wieder eine neue Gestalt annimmt. Andererseits wird die Frage erörtert, wie eine Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften möglich ist, wenn die sprachliche Sinnbildung zur Herausbildung verschiedener »Weltansichten« im Sinne Wilhelm von Humboldts führt. Dazu wird zunächst dargestellt, wie Ricoeur den methodischen Ansatz einer am Modell des Textes orientierten hermeneutischen Phänomenologie entwickelt hat (I). Anschließend werden Ricoeurs Theorie der Metapher (II) und seine Theorie der Erzählung (III) vorgestellt. Schließlich wird mit Bezug auf Ricoeurs Theorie der Übersetzung, d.h. auf sein Konzept der »sprachlichen Gastfreundschaft« die Perspektive einer Ethik der interkulturellen Kommunikation entwickelt (IV).
László Tengelyi : Paul Ricœur und die Theorie der narrativen Identität
Abstract Die Theorie der narrativen Identität wurde – nach einer langen Vorgeschichte – in
den 1980er Jahren von Alasdair MacIntyre, Paul Ricoeur, Charles Taylor, David Carr und anderen philosophisch ausgearbeitet. Im vorliegenden Aufsatz wird ein Versuch unternommen, die Rezeptionsgeschichte dieser Theorie in der Philosophie der letzten beiden Jahrzehnte zusammenfassend darzustellen. Es wird nicht nur behauptet, dass die narrative Auffassung vom Selbst – besonders mit dem Werk von Marya Schechtman – auch in der analytischen Philosophie zu einem gewissen Durchbruch gelangte, sondern es wird ebenfalls gezeigt, wie sie Gegenstand grundlegender Einwände wurde und zu höchst aufschlussreichen Auseinandersetzungen führte. Die These, die dabei verfochten wird, besagt, dass der heute erreichte Stand der Diskussion über die Theorie der narrativen Identität der ursprünglich von Paul Ricoeur ausgearbeiteten Fassung dieser Theorie eine neue Aktualität verleiht.
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Theo Kobusch : Wer bin ich?
Abstract Ricoeurs Kritik der analytischen Philosophie der Person ist eine Kritik der Verdinglichungstendenz dieser Philosophie. Die »Selbstheit« gegenüber der »Selbigkeit« zur Geltung zu bringen, bedeutet auch, die der Person als solcher zukommende Identität herauszustellen und sie von einer Ding- oder Sachidentität zu unterscheiden. Durch diese personale Identität des Selbst bedingt gewinnt das Andere des Selbst eine besondere Wichtigkeit – im Unterschied zum Anderen einer Sache, der gar nichts wichtig sein kann. Dieses wichtige Andere des Selbst ist nichts anderes als ein anderes Selbst, eine andere Person. Im Lichte dieser besonderen Beziehung, die die Person zur anderen Person hat, wird auch erst die ganze
Bedeutung des neuen Begriffs der Verantwortung sichtbar, der den der Zurechenbarkeit
oder Imputabilität abgelöst hat.
Burkhard Liebsch : Die (gebrochenen) Versprechen der Moderne und die Zukunft der Geschichte. Zur Geschichtsphilosophie Ricœurs – mit Blick auf Kant, Levinas und Derrida
Abstract Das Ende der Geschichte ist bekanntlich immer wieder ausgerufen worden. Ungeachtet
dessen fühlte sich Ricoeur dazu verpflichtet, den praktischen Implikationen jener Versprechen treu zu bleiben, die man mit der Moderne verknüpft hat. Dieser Aufsatz zeigt, dass die Verbindlichkeit dieser Versprechen für Ricoeur noch immer auf dem Spiel steht. Dass speziell die europäische Geschichte nurmehr als ein Friedhof nicht gehaltener und − zumal in »globaler« Hinsicht − kaum mehr glaubwürdiger Versprechen zu betrachten ist, will Ricoeur nicht hinnehmen. Das Profil seiner daraus sich ergebenden Geschichtstheorie in praktischer Absicht wird in diesem Aufsatz mit besonderer Rücksicht auf das geschichtskritische Denken von Levinas aufgezeigt.
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Thomas Bedorf : Erkennen, Anerkennen und Verkennen. Paul Ricœurs Öffnung des Begriffs der Anerkennung
Abstract In seinem Anerkennungsbuch ›Parcours de la reconnaissance‹ führt Ricoeur mehrere
Stränge seiner Reflexionen über das praktische Selbst zusammen. Erkenntnis, Selbstverhältnis, Gedächtnis sowie intersubjektive, wechselseitige Bestätigung stellt er als Facetten eines umfassenden, gleichwohl nicht integrierenden Anerkennungsbegriffs dar. Innovativ zeigt sich Ricoeurs Vorgehen vor allem durch die Aufnahme des Gabetheorems in die Struktur intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse, weil so die harmonisierenden Symmetrieeffekte gängiger Anerkennungstheorien vermieden werden können. Allerdings lässt sich, anders als bei Ricoeur,
das Potential dieser Anregung nur ausschöpfen – so der Vorschlag –, wenn man Gabe- und Alteritätstheorie zusammenführt.
Paul Ricœur : Fragile Identität: Achtung vor dem Anderen und kulturelle IdentitätArtikel kaufen
Gesamtverzeichnis Jahrgang 38 (2013)