Die Klimakrise, die mit der Gefahr einer irreversiblen Reduktion der Vielfalt des Lebens auf dieser Erde einhergeht, kann als das drängendste ethische Problem unserer Zeit gelten. Mit der Übernutzung von Ökosystemen und dem Unterbrechen evolutionärer Linien greifen wir in einer nie zuvor gekannten Tiefe in die Natur ein. Wir bedrohen damit nicht nur die Möglichkeiten zukünftigen menschlichen Lebens. Was auf dem Spiel zu stehen scheint, ist zunehmend die Möglichkeit des Lebens selbst. Die Beiträge des Heftes gehen der Frage nach, ob und wieweit die aus den Fugen geratenen gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Anthropozän neue Formen des Widerstands und zivilen Ungehorsams nötig machen bzw. legitimieren könnten. Ziviler Ungehorsam wird dabei als Möglichkeit der Demokratisierung unserer Naturverhältnisse über den menschlichen Rand hinaus begriffen.
Vorwort der Herausgeber
Open Access
Andreas Hetzel
Abhandlungen:
Jürgen Manemann
Zusammenfassung Ausgangspunkt der Debatte über zivilen Ungehorsam in der Bundesrepublik Deutschland war das Jahr 1983. Jürgen Habermas hielt damals einen vielbeachteten Vortrag, der bis heute den Referenzpunkt vieler öffentlicher Debatten über den zivilen Ungehorsam bildet. Dabei ist das Verständnis des zivilen Ungehorsams als politische Handlung, das Hannah Arendt vor 50 Jahren in einem Vortrag in New York entwickelt hat, anschlussfähiger an gegenwärtige Debatten über politischen Widerstand von Klimaaktivist*innen.
Artikel kaufen Claire Moulin-Doos
Zusammenfassung Das Potenzial der im Kontext des Klimawandels zunehmenden illegalen Protestaktionen, politische Veränderungen zu initiieren, um das Zeitalter des Anthropozäns politisch zu adressieren, wird in diesem Artikel analysiert. Dabei geht es um mehr als nur um den Klimawandel. Die gegenwärtige Krise ist Ausdruck der grundlegenden Herausforderung, ein gemeinsames Zusammenleben auf der Erde zu gestalten, was zugleich Fragen der Ungleichheiten und Migrationen mobilisiert. Neue politische Akteure wie die Erde und nicht-menschliche Lebewesen verschaffen sich politisches Gehör und drängen uns dazu, die moderne Dichotomie von Objekt und Subjekt aufzugeben. Die Wiederbelebung des Bewusstseins für die Macht des Kollektivs kann die Herstellung neuer politischer »Wirs« begünstigen. Der hegemoniale liberale Diskurs wird hinterfragt, sodass neue demokratische Projekte (z. B. in Form einer politischen und wirtschaftlichen Entglobalisierung) unter den Bedingungen unserer terrestrischen Gebundenheit initiiert werden könnten.
Artikel kaufen Fiona Schrading
Zusammenfassung Hat die Zukunft eine Zukunft im Anthropozän? Was kann es heißen, in der eigentümlich »zukunftslosen« Epoche des Anthropozäns, in der die Zeit selbst aus den Fugen geraten scheint, sich um eine »gemeinsame Zukunft« oder um eine »Zukunft des Gemeinsamen« zu sorgen? Dieser Aufsatz geht davon aus, dass der ethischpolitische Einsatz im Anthropozän gerade darin besteht, die »Zukunft« als anthropozentrischen Attraktor des »Globalen Westens« in Frage zu stellen, sie zu entsouveränisieren und zu de-humanisieren. Um auf die katastrophischen Zeiten des Anthropozäns antworten zu können, sind wir dazu aufgefordert, gerade nicht in der problematischen Alternative zwischen einem Festhalten an der »Zukunft« als fortschrittliches Versprechen von Modernisierung in der Überwindung des Alten und einer hoffnungslosen »Zukunftslosigkeit« zu verharren, sondern vielmehr nach einer möglichen Umarbeitung der Ontoepistemologie von Zukunft selbst zu fragen. Wie sind widerständige Performanzen von Zukünftigkeit möglich, die »Zukunft« als gewaltvolle und ausschließende ontoepistemologische Maschine der Moderne erschüttern und durchkreuzen? Und wie lassen sich gemeinsame Praktiken der Zukünftigkeit fassen, die nicht auf die Erarbeitung einer »gemeinsamen Zukunft« gerichtet sind?
Artikel kaufen Mareike Kajewski
Zusammenfassung Der Artikel untersucht die Frage, wie Menschen den Klimawandel als sozial-ökologisches Problem begreifen können, das menschengemacht ist. Dazu wird zunächst Hannah Arendts Diagnose der Weltentfremdung rekonstruiert. Diese zeigt, wie die Weltentfremdung als Haltung entsteht und ein problematisches Mensch-Mensch wie auch Mensch-Natur-Verhältnis hervorbringt. In einem zweiten Schritt wird mit Judith Butlers Konzept der pluralen Performativität dargelegt, wie und warum gegenwärtige weltweite Proteste politisch wirksam werden und auf die Veränderung der Lebensbedingungen aller zielen, sodass der Klimawandel wieder als etwas betrachtet wird, das politisch verhandelbar, weil menschengemacht, ist. Dies kann die Bedingungen und die Auffassung politischen und kollektiven Handelns grundlegend verändern.
Artikel kaufen Lou Marin
Zusammenfassung M. K. Gandhi wird heute unter Berufung auf die indische Schriftstellerin Arundhati Roy oft als angeblicher Rassist und Verteidiger des Kastensystems kritisiert. Damit wird Gandhis Aktualität, die sich in seinem Konzept des zivilen Ungehorsams zeigt, verdeckt. Es wird versucht, Gandhi als mögliche Referenz für gegenwärtige Positionierungen und Strategien gegen aktuelle Kriege, neokoloniale Ausbeutung und die Zerstörung der Biosphäre zu delegitimieren. Im ersten Teil des Textes werden diese Vorwürfe widerlegt und damit die Legitimität, sich auf Gandhi als Vorbild für emanzipative soziale Bewegungen zu beziehen und aus seinen Kämpfen zu lernen, wiederhergestellt. In einem zweiten Teil wird das Konzept des »revolutionären zivilen Ungehorsams« Gandhis dargestellt. Es wird aufgezeigt, dass dieses Konzept auf einer anarchistischen und anti-kapitalistischen Vorstellung einer freien Gesellschaft fußt und sich von einem reformistischen Verständnis des zivilen Ungehorsams unterscheidet.
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Essay:
Josef H. Reichholf
Buchbesprechungen:
