Allgemeine Zeitschrift für Philosophie: Heft 49.2/2024

In der Philosophie hat es sich eingebürgert, zwischen radikal pluralistischen Theorieansätzen und solchen Positionen zu unterscheiden, die einer bestimmten Methode mit Allgemeinheitsanspruch folgen. Jüngere Theorieansätze geben jedoch Anlass, die scharfe Entgegensetzung insbesondere zwischen Pluralismus und Dialektik zu hinterfragen. So haben sich einerseits im Anschluss an Marx unterschiedliche Spielarten der Dialektik entwickelt, die durch ein Denken der Negativität, der Überdetermination oder der Differenz versuchen, das von der positivistischen Rationalität der Aufklärung Ausgeschlossene zu berücksichtigen, ohne es zu assimilieren.

Andererseits wissen gegenwärtige Forschungsansätze, die von Situationen ausgehen oder einen Perspektivismus vertreten, darum, dass die Begriffe, in denen Vielstimmigkeit und Pluralität artikuliert und reflektiert werden, stets Gefahr laufen, diskursiv vereinheitlicht und politisch vereinnahmt zu werden. Das Themenheft versucht daher, die Frage nach der Nähe und den Unterschieden von pluralistischen und dialektischen Theorieansätzen zu präzisieren.

Inhalt

Einleitung in den Schwerpunkt

• Dirk Quadflieg, Marc Rölli: Situiert und/oder dialektisch denken? S. 133 (DOI 10.12857/AZP.910490220-1)Open Access

Schwerpunkt

• Katja Diefenbach: Plurale Dialektiken nach der dekolonialen Wende des Marxismus. Louis Althusser als Leser von Thomas Hobbes S. 139 (DOI 10.12857/AZP.910490220-2)
  

  Zusammenfassung

  Ausgehend von Louis Althussers Überlegungen zur relativen Autonomie der Überbauten und der wirklichkeitskonstituierenden Kraft des Imaginären diskutiert der Artikel, was unter einer differentiellen oder pluralen Dialektik verstanden werden kann, die einen von geschichtlichen und essentiellen Einheits- und Fortschrittsprinzipien befreiten Marxismus zu denken erlaubt. Obwohl Althusser nicht dazu in der Lage war, Marx’ Eurozentrismus zu überwinden, sucht der Text in einer strategischen Gegenlektüre in Althussers wenig rezipierten Vorlesungen über Thomas Hobbes nach begrifflichen Ressourcen für ein dekoloniales Modell differentieller Dialektik.
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• Iain Macdonald: Dialectical Thinking. An Unfinished Project S. 165 (DOI 10.12857/AZP.910490220-3)
  

  Zusammenfassung

  From among innumerable criticisms of dialectical thinking, two anti-Hegelian positions will be discussed here: Rudolf Haym’s and Gilles Deleuze’s, the latter of which represents a Nietzschean line of argument. Taking into consideration the sometimes quite understandable questions that they raise, we will see that they nevertheless miss their target, in part by mistaking Hegel’s dialectical thinking for dialectical thinking in general, for what it might yet become. An alternative will be proposed: Theodor W. Adorno’s negative dialectic. Referring to certain dilemmas and paradoxes of experience, we will see how Adorno’s open dialectic can offer a response to the view, shared in part by Adorno himself, according to which Hegelian dialectical thinking runs the risk of underestimating historically situated individuality, plurality, and difference.
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• Marc Rölli: Situiert denken. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Theorie der Befreiung von Christoph Menke S. 183 (DOI 10.12857/AZP.910490220-4)
  

  Zusammenfassung

  Eine dezidierte philosophische Herausforderung der Gegenwart könnte darin liegen, Rechenschaft über die Situiertheit des Denkens abzulegen. In vielen universalismuskritischen Positionen feministischen, ökologischen oder dekolonialen Typs geht es um die Zurückweisung eines »Blicks von nirgendwo« (Haraway), der für sich reine Objektivität reklamiert und sich dagegen immunisiert, seine spezifische Perspektivität anzuerkennen. In der philosophischen Tradition der Skepsis finden sich epistemische Ressourcen, die dogmatische »Zuschauertheorie des Erkennens« (Dewey) auf Abstand zu halten. Im ästhetischen Denken seiner Theorie der Befreiung hat Christoph Menke einen Vorschlag unterbreitet, die Erfahrung der Negativität im Sinne einer materialistischen Dialektik auszuzeichnen. Ihre kritische Stellung zu Hegels Idealismus realisiert einige wichtige Aspekte der skeptisch inspirierten Affirmation der situierten und nicht subjektiv beherrschten Erfahrung. Ihre anthropologische Konstruktion einer ästhetischen Natur des Menschen bleibt aber dennoch einer Dialektik treu, die auf die Überwindung des situierten Denkens spekuliert.
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• Dirk Quadflieg: Situierte Dialektik. Zur Immanenz der Kritik S. 205 (DOI 10.12857/AZP.910490220-5)

  Zusammenfassung

  Ausgehend von Hegels Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kritik soll gezeigt werden, dass schon die Hegel’sche Dialektik eine Form des situierten Denkens darstellt. Weil dialektisches Denken von der historischen Gewordenheit der eigenen Begriffe und Kategorien ausgeht, kann die Aufklärung der eigenen Voraussetzungen nur immanent, durch eine Reflexion auf die gegenwärtige historische und soziale Situierung erfolgen. Hegels Erweiterung dieser Situierung auf die Idee einer Weltgeschichte erweist sich jedoch nicht zuletzt aufgrund ihrer eurozentrischen Ausrichtung und eines problematischen Fortschrittsgedankens als unhaltbar. Im Rückgriff auf Althussers an Marx anschließender materialistischer Dialektik soll deshalb gezeigt werden, wie sich die bei Hegel angelegte situierte Dialektik weiterdenken lässt, ohne dazu auf eine umfassende Geschichtsphilosophie zurückgreifen zu müssen.
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Essay

• Karen Koch: Zwischen Illusion und Widerspruch. Zur Relevanz der Dialektik bei Kant und Hegel S. 225 (DOI 10.12857/AZP.910490220-6)Artikel kaufen

• Toni Tholen: Abschiedlich leben! Ein Plädoyer S. 205 (DOI 10.12857/AZP.910490220-7)Artikel kaufen

Buchbesprechung

• Max Beck: Eine vieles umfassende Philosophie. Die Gesammelten Schriften Otto Neuraths S. 225 (DOI 10.12857/AZP.910490220-8)Artikel kaufen

• Giulio Marchegiani: Die phänomenologische Bedeutung der kantischen Kategoriendeduktion für den Aufbau einer ›lebendigen Philosophie‹ S. 249 (DOI 10.12857/AZP.910490220-9)Artikel kaufen