Allgemeine Zeitschrift für Philosophie: Heft 50.1/2025

In Zeiten von Krisen gewinnt die Frage nach dem Gewissen erneut an Aktualität. Durch Diskurse etwa in der Medizin (Corona, Impfdebatte), zur Technik (Digitalisierung) oder zu Krieg und Frieden rückt dabei besonders das Verhältnis von Leiblichkeit und Gewissen in den Vordergrund. Dem widmet sich das Themenheft der AZP, eingeleitet von Henrieke Stahl (Trier/Slavistik). Ein erster Beitrag von Monika Bobbert und Marius Menke (Münster/Theologie) stellt Ergebnisse und Einsichten zur Aktualität des Gewissensbegriffs im Deutschen Bundestag vor, welche aus einem diesem Thema gewidmeten laufenden DFG-Projekt erwachsen sind. Die grundlegenden rechtlichen Implikationen der Gewissensfreiheit werden von Gerd Morgenthaler (Siegen/Jura) analysiert. Als ein zentrales und wirkmächtiges Beispiel des 20. Jahrhunderts lotet Markus Riedenauer (Eichstätt/Philosophie) Heideggers Gewissensbegriff in seiner Relevanz aus. Abschließend kontextualisiert Harald Schwaetzer (Stuttgart/Philosophie) historisch-systematisch die gegenwärtigen Diskussionen und ihren Voraussetzungshorizont, indem er von der griechischen Spätantike her die Frage nach Gewissen und Leiblichkeit thematisiert.

Inhalt

• Vorwort der Herausgeber zum Jahrgang 2025 (DOI:10.12857/AZP.910500120-1)Open Access

Schwerpunkt

• Henrieke Stahl: Überlegungen zur Aktualität der Gewissensfreiheit (DOI:10.12857/AZP.910500120-2)
  Zusammenfassung

  Die Freiheit der Gewissensentscheidung (Art. 4 (1)) ist ein gewichtiges Grundrecht, das in der Gegenwart aufgrund wachsender Ansprüche der Gesellschaft gegenüber dem Individuum zunehmend an Bedeutung als Schutzrecht gewinnt. In der Rechtspraxis spielt es dagegen eine untergeordnete Rolle. Im Fall einer juristisch erfolgreichen Berufung auf die Gewissensfreiheit müssen hohe Hürden genommen werden, denn in der Regel richtet sich ihre Beanspruchung gegen geltendes positives Recht. In diesem Aufsatz wird das rechtspraktische Verständnis der Gewissensfreiheit problematisiert und die Forderung nach einer philosophischen sowie rechtswissenschaftlichen Aktualisierung der Gewissensfreiheit angesichts der Herausforderungen durch technologischen Fortschritt bei Erosion gemeinverbindlicher ethischer Grundlagen aufgestellt. Die These dieses Aufsatzes lautet, dass die Bindung des Gewissens an moralische Kategorien zu kurz greift. Das Gewissen sollte vielmehr als Existenzial begriffen werden, welches die bedingungslose Ausrichtung des Menschen an den Prinzipien von Wahr und Gut verkörpert und ihn zu unausgesetzter Selbstbildung anhält. Im Gewissen realisiert sich der Kern der Persönlichkeit, das Ich des Menschen.
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• Markus Riedenauer: Selbstsein als Person im Anschluss an Martin Heideggers Gewissens-Begriff (DOI:10.12857/AZP.910500120-3)
  Zusammenfassung

  Eine der bekanntesten und innovativsten Theorien des Gewissens im zwanzigsten Jahrhundert wurde von Martin Heidegger in Sein und Zeit entwickelt. Sie ist eingebettet in seine Untersuchung der menschlichen Existenz und Teil des weitergreifenden Projekts einer Fundamentalontologie. Darum scheint sie von Fragen nach der aktuellen Bedeutung des Gewissens in moralischen, politischen und rechtlichen Zusammenhängen weit entfernt oder sogar irrelevant dafür zu sein. Heidegger selbst ist die Abgrenzung von hergebrachten Bestimmungen des Gewissens wichtig. Hingegen argumentiert dieser Beitrag dafür, dass die existentiale Bestimmung des Gewissens ein fundamentales Verständnis des menschlichen Selbstseins als Person bietet, als unverzichtbare Grundlage für die menschliche Existenz und die politische Koexistenz. Dadurch erhalten die moralischen und rechtlichen Konsequenzen und Anwendungen noch mehr Bedeutung.
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• Harald Schwaetzer: Die Bildung des Gewissens als Vergeistigung der Leiblichkeit (DOI:10.12857/AZP.910500120-4)
  Zusammenfassung

  Der Beitrag zeigt, dass menschliche Leiblichkeit in einem konstitutiven Zusammenhang mit dem Gewissen steht. Ausgehend von der antiken Philosophie argumentiert er systematisch, dass der Mensch wahrheitsfähig ist in einem geistigen Anschauen des Eidos, wie es sich aus der Evidenz der Theophanie entwickelt hat. Eine solche Evidenz wird mit Picht nicht als Abschluss, sondern Beginn der Klarheit gedeutet: Wahrheit ist immer vertiefbar und muss bewusst geübt werden. Sie trägt deshalb moralischen Charakter. Dieser Vollzug kann als Gewissensbildung verstanden werden. Die gemeinte Anschauung des eidos ist in der Antike sinnlich gemeint und bezieht sich auf die Gestalt des Menschen. So verbindet sich Wahrheits- und Gewissensbildung mit der Leibfrage. Eidolon als Diminutiv von Eidos gilt in der Spätantike als sinnlicher Ausdruck der leiblichen Individualgestalt des Menschen, die nicht nur seine äußere Form, sondern auch seine Individualität zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne gehören menschliche Individualität, Gewissensbildung und Leiberscheinung untrennbar zusammen.
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• Gerd Morgenthaler: Die Gewissensfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (DOI:10.12857/AZP.910500120-5)
  Zusammenfassung

  Das deutsche Grundgesetz erklärt die Gewissensfreiheit für unverletzlich. Die genaue Bedeutung dieser Bestimmung und ihre Rechtsfolgen sind jedoch umstritten. Der folgende Beitrag fasst daher die Auslegung dieses fundamentalen Grundrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zusammen und analysiert sie. Im Mittelpunkt stehen dabei der Gewissensbegriff des Gerichts und sein Ansatz zur Lösung von Konflikten zwischen dem individuellen Gewissen und rechtlichen Verpflichtungen.
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• Monika Bobbert/Marius Menke: Gewissensentscheidungen im Deutschen Bundestag: Kategorien für eine qualitative Inhaltsanalyse auf Grundlage philosophisch-theologischer Gewissenskonzepte (DOI:10.12857/AZP.910500120-7)
  Zusammenfassung

  Wenn sich Abgeordnete im Deutschen Bundestag bei Entscheidungen auf ihr Gewissen berufen, können unterschiedliche Gewissensverständnisse zugrunde liegen. Redeprotokolle des Bundestags lassen sich mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse charakterisieren und in Bezug auf Themen und Zeitphasen vergleichen. Ein entscheidender Schritt im Übergang von der Theorie zur empirischen Untersuchung besteht darin, philosophische und theologische Gewissenskonzepte zu sichten und in ein deduktives Kategoriensystem zu überführen. Spezielle methodische und konzeptionelle Schritte, die angesichts der Forschungsfrage und des herangezogenen Materials ausgearbeitet wurden, stehen im Mittelpunkt des Beitrags.
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Essay

• Norman Sieroka: Variatio delectat. Wiederholung, Neuerung und warum wir hinhören sollten, wenn es um Zeit geht (DOI:10.12857/AZP.910500120-8)
  Zusammenfassung

  Es gibt zwei grundlegende – und in der Tat gegenläufige – Assoziationen über das, was Zeit auszeichnet. Erstens ist Zeit durch Wiederholung charakterisiert: Jahreszeiten, Tageszeiten und Feiertage kommen mit akribischer Regelmäßigkeit immer wieder. Zweitens ist Zeit durch Veränderung charakterisiert: Es ist vermeintlich »die Zeit«, deren Zahn an allem nagt und die fortwährend ihre Spuren hinterlässt, wenn wir älter werden, die Fassadenfarbe verblasst oder der Efeu alles überwuchert.
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Buchbesprechung

• Vanessa Ossino/Marlin Mayer/Hannes Wendler: Ein Kompendium der Phänomenologie – Grundlagen, Entwicklungen, Wirkfelder (DOI:10.12857/AZP.910500120-9)
  Zusammenfassung

  Emmanuel Alloa / Thiemo Breyer / Emanuele Caminada (Hg.), Handbuch Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2023, 573 S., ISBN 978-3-161-61983-0, € 139,-.
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