Matthias Dall'Asta
In einer Lektion meines alten Lateinbuches stieß ich als Schüler auf den wunschdenkerischen Satz: non scholae, sed vitae discimus (»nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir«), was mich damals unverzüglich dazu veranlaßte, jene Worte in provokanter Absicht modifiziert auf den Umschlag desselben Buches zu malen: non vitae, sed scholae discimus. Groß war mein Erstaunen, als ich später feststellte, daß diese vermeintliche Modifikation ganz im Gegenteil die Originalfassung des römischen Philosophen L. Annaeus Seneca bildet (vom Ende seines 106. Briefes an Lucilius). Ob dieser Entdeckung wurden mir die Klassiker noch um einiges sympathischer. Für Liebhaber biographischer Konstrukte ließe sich - wenn es nur nicht gar so abgeschmackt klänge - im nachhinein vielleicht sogar behaupten, der künftige Editor habe daraufhin bereits als junger Lateinschüler dunkel zu ahnen begonnen, daß es eine lohnende Aufgabe sein könnte, die zutreffenden Einsichten der Alten von den Verfälschungen der Nachgeborenen zu befreien.
Derselbe Seneca formuliert andernorts: quae philosophia fuit, facta philologia est (»was Philosophie war, ist zur Philologie geworden«) und warnt damit vor einem allzu theoretischen und nur noch von bloßen Fachinteressen geleiteten Umgang mit literarischen Texten: Wo diese ihr Potential, aufzurütteln, zu faszinieren und nachhaltig auf das Leben ihrer Rezipienten einzuwirken, nicht mehr entfalten können, ist eine interpretative Schwundstufe erreicht, die den Namen »Philosophie« nicht verdient. Gemäß einem solchen lebensweltlich geprägten Verständnis wird Philosophie weniger von genau definierten Gegenständen und Strukturen als vielmehr von der produktiven Empfänglichkeit der denkenden Subjekte her bestimmt. Gemäß der »Metaphysik« des Aristoteles (982b) ist es seit jeher das Staunen (to thaumazein), das die Menschen zu philosophieren beginnen läßt. Deswegen ähnele der Freund von Sagen und Erzählungen (philomythos) dem Philosophen: Beider Aufmerksamkeit gelte dem Wunderbaren (den thaumasia). Wegen ihrer Tendenz zum modellhaft Allgemeinen sei die Dichtung auch philosophischer als bestimmte Formen der Geschichtsschreibung (vgl. Poetik 1451b).
Nur insofern ich neben aller philologisch-editorischen Kleinarbeit immer ein leidenschaftlicher Philomyth geblieben bin, darf ich es wagen, für meine Person überhaupt einen - zumindest einige Buchmeter begangenen - »Weg in die Philosophie« zu behaupten. Ausgangspunkte für philosophische Erkundungen waren für mich oftmals literarische Texte und Figuren: So landete ich etwa vor Zeiten dank eines Thomas Buddenbrook neugierig bei Schopenhauer, durch einen Adrian Leverkühn gebannt bei Nietzsche, wegen eines Candido Munafò amüsiert bei Voltaire, auf den Spuren eines Doktor Pangloß unsanft bei Leibniz oder über einen Victor Eremita hart bei Hegel. Als einführende Texte in die Philosophie empfehle ich aber vor allem Senecas Briefe und die Romane Dostoevskijs, allen voran »Die Brüder Karamasow«. Es gibt nur wenige Texte, in denen eindringlicher über Fragen der Ethik und Moral sowie - im Fall des russischen Romanciers - der Vergeltung und Religiosität gehandelt wird.
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