Otto Pöggeler

Schon mit fünfzehn Jahren mußte ich die täglichen fünf Stunden Orgelspiel aufgeben. Als Luftwaffenhelfer geriet ich in ein Bombeninferno. Mein nächster Freund fiel neben mir; die Detonationen zerrissen mein linkes Trommelfell. Das war nur der Auftakt für den Weg durch das letzte Kriegsjahr. Der erhoffte Weltfrieden blieb aus, doch ein Leben lang verstummte nicht die Mahnung, unnötige Auseinandersetzungen im Großen wie im Kleinen zu meiden. Bei der Orientierung halfen die Dichter, wenn auch Mathematik und Musik zuerst die großen Leidenschaften waren.

Beim Studium dominierte bei mir unter den Lehrern der Universität Bonn Ernst Robert Curtius, obwohl ich selbst gar nicht Romanistik gewählt hatte. Ich gewann aber die Überzeugung, daß ein Gegenspieler wie Erich Auerbach mit seinen Dante-Studien und der Mimesis den besseren Entwurf einer abendländischen Literaturgeschichte gegeben hatte. Theologen wie Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann machten gegen seine Ausrichtung auf Literatur im Stil von Virginia Woolf den Rückgang auf den »Augenblick« im Sinne des Glaubens geltend. Heinrich Schlier brachte in seinen Bonner Vorlesungen diese Ansätze vom späten Denken Heideggers her in die Erörterung einer abendländischen Theologie ein. Bildeten nicht auch Klassik und Romantik in Deutschland eine Epoche abendländischer Geschichte, die an das Italien Dantes, das England Shakespeares, das Spanien Calderons und an die französische Klassik anschließen konnte? Hölderlin, Kleist und Clausewitz waren während der Kriege im Anschluß an die Französische Revolution mit dem Untergang von Mainz konfrontiert worden – mit 22, 15 und 13 Jahren! Ließ sich von ihnen her nicht die »Goethezeit« neu sehen? Ich beendete mein Germanistikstudium mit einer Dissertation über Hegels Kritik der Romantik, weil mir das Thema »Hölderlin und der Deutsche Idealismus« noch zu schwierig schien. Dabei mußte Hegel aus der Folge der Systeme »von Kant bis Hegel« befreit und auf die Grunderfahrungen seiner Generation bezogen werden. Hegel hatte noch in Heidelberg einen Gesprächspartner in Friedrich Creuzer, in Berlin in Franz von Baader.

Was ich fachlich vor allem studierte, war Wirtschafts- und Sozialgeschichte: die europäische Agrargeschichte seit der Antike, die Geschichte der nordeuropäischen Städte und ihres Bürgertums seit dem Mittelalter. So konnten die Pariser Manuskripte des jungen Marx realistisch korrigiert, konnte Max Weber von seinen historischen Forschungen her aufgenommen werden (und nicht nur von den überstrapazierten Vorträgen über Politik und über Wissenschaft als Beruf her). Hegels Phänomenologie des Geistes rückte an eine zentrale Stelle. (Die Auseinandersetzung zwischen Kojèves Historismus und dem Widerspruch von Leo Strauß und seiner Schule blieben für mich lebenslang ein Thema.) In einer dreißigjährigen Bemühung ist es auch gelungen, die »Idee« dieses Hegelschen Werkes sowie deren Ausgestaltungen herauszuarbeiten.

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