Friedrich Nicolai
Buchhändler, Verleger, Schriftsteller, Geschichtsschreiber
*18. März 1733 in Berlin
†8. Januar 1811 in Berlin.
N. besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin, die Latein-Schule des pietistischen Waisenhauses in Halle und 1748 die neue Heckersche Realschule in Berlin. 1749-52 absolvierte er in Frankfurt/Oder eine Buchhandelslehre, bevor er, der jüngste von vier Brüdern, die 1752 die väterliche Verlagsbuchhandlung erbten, nach Berlin zurückkehrte. N. verstand es, die Vita activa eines »Kultur-Unternehmers« in hohem Maße mit schriftstellerischen, literaturkritischen und geschichtsforschenden Aktivitäten zu verbinden, denen er sich nur etwa eineinhalb Jahre ausschließlich widmen konnte, als er sich aus der Verlagsbuchhandlung wegen Erbstreitigkeiten zurückzog; 1758 übernahm er nach dem Tod des ältesten Bruders die Leitung.
Bei N. verband sich enzyklopädische Neugier mit ebensolcher Sammelleidenschaft: Seine – damals in Berlin wohl größte – [Privatbibliothek] umfaßte etwa 16 000 Bände sowie 6 800 Gelehrtenbildnisse. Zugleich führte der fürsorgliche Familienvater ein großes Haus und besaß eine Musikaliensammlung. N. hatte Freunde und Bekannte im gesamten Reichsgebiet und unterhielt eine fast unübersehbare, in 89 handschriftlichen Bänden nur unvollständig überlieferte Korrespondenz. Aufgrund seines polemischen Temperaments war die Zahl seiner Gegner kaum geringer als die der Freunde. Fest in den Prinzipien der prot., preuß.-berlinisch geprägten Aufklärung verwurzelt, zog N. alle literarischen, publizistischen und verlegerischen Register, um ihr zum Sieg zu verhelfen. In den aufgeklärten Sozietäten der Zeit – der Mittwochsgesellschaft und dem Montagsklub in Berlin und dem Freimaurerorden – sowie durch Zeitschriften und Rezensionen trug er maßgeblich zur Entstehung einer ständeübergreifenden Gelehrtenrepublik und diskutanten Öffentlichkeit bei. In bezug auf den Absatz mancher seiner Werke wesentlich erfolgreicher als seine großen Gegenspieler Goethe, Schiller und Kant, bewertete N. Literatur und Philosophie vornehmlich unter dem Aspekt gesellschaftlicher, politischer und moralischer Wirkung.
Selbst zu Beginn seiner Laufbahn als Literaturkritiker gemeinsam mit seinen Freunden Lessing und Mendelssohn 1755 in den ›Briefe(n) über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland‹, 1756/57 dem ›Briefwechsel über das Trauerspiel‹ und in den 1759-65 im eigenen Verlag publizierten ›Briefe(n), die Neueste Literatur betreffend‹ (24 Bde.) zu den Neuerern gehörig, standen die dort von N. vertretenen ästhetischen und poetischen Ideale, aber auch das ihnen zugrundeliegende ethische Normengefüge bald im Gegensatz zur literarischen Entwicklung in Deutschland. Dem Rationalisten und Verfechter einer aufgeklärten Verantwortungsethik mißfiel das elitäre Gehabe und der zügellose Individualismus der jeweiligen literarischen Avantgarde. Doch während andere Zeitgenossen sich dieser anschlossen oder sie beeinflußten, war N. zu keinen Konzessionen bereit: Weder Sturm und Drang, noch Klassik oder Romantik vermochte er etwas abzugewinnen. Dies führte ihn zunehmend in Gegensatz zu Schriftstellern, denen er sich anfangs durchaus verbunden fühlte, beispielsweise Herder. Seine Werther-Parodie (1775) richtete sich gegen den Goethe des Sturm und Drang und den gesellschaftlich als verhängnisvoll eingestuften Geniekult, sein satirischer Dialog ›Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S.‹ (1799) gegen die romantische Eheauffassung der Gebrüder Schlegel und ihres Kreises. Als philosophischer Empirist griff er den bis zur kopernikanischen Wende der Erkenntnistheorie 1781 (Kritik der reinen Vernunft) durchaus noch als Weggenossen angesehenen Kant an, stärker noch dessen Schüler, die er in ›Leben und Meinungen Sempronius‹ Gundiberts eines deutschen Philosophen‹ (1798) verspottete. Hatten sich schon Goethe und Schiller mit kaum minder heftigen Hieben zur Wehr gesetzt, beispielsweise in den ›Zahme(n) Xenien‹, so später auch Kant und Fichte.
Von größerer Bedeutung als kultur- und sozialgeschichtliches Zeugnis der Zeit denn als literarisches Werk (das Schriftenverz. nennt 239 Veröffentlichungen) war sein Erfolgsroman ›Das Leben und die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker‹ (3 Bde., 1773–76), der mit 20 000 Exemplaren bis 1799 vier Auflagen erreichte. Dieses Werk stand mit seiner Thematik Kirche, Theologie und Gesellschaft sowie seiner Kritik an prot. Orthodoxie und am Pietismus im Zentrum aufgeklärter Diskussion. Durch seine Adelskritik und seine Definition bürgerlicher Normen, seine Informationen zu Buchhandel und Verlagswesen sowie zu den aktuellen sozialen Problemen Berlins stellt es einen kultur- und sozialkritischen Schlüsseltext der Aufklärung dar. N.s historisch fundierte Topographie Berlins: ›Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam‹ (3 Bde., 3. erweiterte Aufl. 1786) sowie seine zwölfbändige ›Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781‹ (1783-96) bieten in ihren besten Partien bis heute eine aufschlußreiche historische Quelle zur Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Stadtgeschichte. N.s Bedeutung als Historiker vor allem der Landesgeschichte Berlin-Brandenburgs, aber auch einzelner Fragen der Kultur- und Kirchengeschichte, ist lange nicht erkannt worden: Intensives Quellenstudium, Objektivität als regulatives Prinzip und (früh) historistische methodische Prinzipien, vor allem das des Verstehens im epochenspezifischen Kontext, charakterisieren seine Geschichtsschreibung.
Neben seinen Arbeiten als Literaturkritiker, Satiriker und Verfasser zahlreicher Porträts von aufgeklärten Zeitgenossen, als Buchhändler und Verleger von insgesamt 1117 Bänden steht N.s von keinem zweiten Zeitgenossen erreichte Leistung als Organisator der deutschen Aufklärung, sichtbar vor allem in der von ihm herausgegebenen ›Allgemeinen deutschen Bibliothek‹, in deren 256 Bänden (1765-1806) 433 Rezensenten ca. 80 000 Werke besprachen. Ohne Zweifel zählt N. zu den einflußreichsten und bedeutendsten Repräsentanten der deutschen Aufklärung.
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