Alfred North Whitehead erklärte die Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum ›Zeitalter John Deweys‹. Mit seiner naturalistischen Metaphysik, Ästhetik, Wissenschaftstheorie, Theorie der Öffentlichkeit, Ethik, Religionsphilosophie und Pädagogik übte der in breiten Schichten wahrgenommene Intellektuelle einen enormen Einfluss nicht nur auf das amerikanische Denken aus. In einer Zeit der spezialisierten akademischen Philosophie, die nur schwer den Weg in die Öffentlichkeit findet und sich kaum noch umfassende Entwürfe zutraut, ist zu seinem 150. Geburtstag an Dewey als einen Philosophen zu erinnern, der ausgehend von einem weiten Begriff der Erfahrung das ganze Feld der Philosophie abgeschritten hat und als ein politischer und moralischer Kopf viele Debatten in der Öffentlichkeit anstieß.
Abhandlungen:
Marc Rölli : Natur und Kultur. Oder: Wie der Pragmatismus John Deweys einen traditionsreichen Gegensatz aufhebt
Abstract In gegenwärtigen Diskussionen zwischen Naturalisten und Kulturalisten spiegeln
sich nicht nur ein Methodendualismus aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert,
sondern auch veraltete metaphysische Voraussetzungen. In seinem Buch
Experience and Nature (1925) hat John Dewey einen wenig rezipierten und doch
vielversprechenden Vorschlag gemacht, wie mit dem Gegensatz von Natur und
Kultur umzugehen wäre. Dieser Aufsatz rekonstruiert und aktualisiert die wesentlichen
Argumentationslinien: erstens die Unterscheidung zwischen primärer
und sekundärer Erfahrung, zweitens das Theoriemodell des Instrumentalismus
und drittens die Kontinuitätsthese, die sich auf Natur und Kultur ebenso beziehen
lässt wie auf Körper und Geist. Dabei zeigt sich, dass die Radikalität der
Dewey’schen Philosophie regelmäßig naturalistisch bzw. kulturalistisch unterschätzt
wurde.
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Helmut Pape : Deweys Situation. Gescheitertes Handeln, gelingendes Erkennen und das gute Leben
Abstract Deweys Theorie der Situation vollendet die Tradition des klassischen Pragmatismus,
indem sie eine menschliche Erfahrung erkenntnistheoretisch und anthropologisch
deutet: Dass im Ausbilden von Handlungsweisen (habits) das Scheitern
an der widerständigen, wissens- und handlungsrelevanten Erfahrung menschliches
Handeln und Denken prägt. Dies verbindet Wissenschaft und Alltag und ist
charakteristisches Merkmal menschlicher Praxis. Deweys Darstellung der »Struktur
der Forschung« geht von dieser Einsicht aus und gewinnt aus ihr einen natürlichen
Realismus: Den Realismus der Interaktion zwischen dem Wissenden und
seiner Umwelt, in den unmittelbar somatischen, nicht-kognitiven Reaktionen und
den Erfolgsbedingungen gelingender alltäglicher wie wissenschaftlicher Verstehensprozesse.
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Jens Kertscher : Normativer Pragmatismus ohne Transzendentalphilosophie. John Dewey als Sprachphilosoph
Abstract Der Aufsatz präsentiert John Deweys Sprachtheorie als Beitrag zu einer normativen,
sozialpragmatischen Sprachphilosophie. Es wird gezeigt, dass Dewey Beachtung
als ein Verbündeter derjenigen verdient, die von einem sozialpragmatischen
Standpunkt her eine tragfähige Gegenposition zu individualistisch konzipierten
mentalistischen und reduktionistisch verfahrenden naturalistischen Theorien der
Sprache und des Geistes formulieren wollen. Dabei wird eine weitere Besonderheit
der sozialpragmatischen Position Deweys hervorgehoben: Anders als Pragmatisten,
die sich in die transzendentalphilosophische Tradition stellen und sich
dabei insbesondere an der Rationalität des Gebens und Nehmens von Gründen
orientieren, kommt Dewey im Rahmen seines kulturellen Naturalismus ohne
transzendentalphilosophische Begründungsfiguren aus. Dazu werden Deweys
naturalistische Methodik, ihre sprachphilosophischen Konsequenzen sowie sein
Verständnis der Normativität sprachlicher Praxis beleuchtet.
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Andreas Hetzel : Subjektlose Erfahrungen. John Deweys holistische Ästhetik
Abstract John Deweys Art as Experience (1934) behauptet eine Kontinuität von ästhetischer
und alltäglicher Erfahrung. Der Beitrag untersucht zunächst die Gründe,
die Dewey zu einer Kritik der klassischen Autonomie-Ästhetik bewogen haben,
und geht dazu auf Baumgarten und Kant zurück. Im Anschluss interpretiert er
Deweys zugleich naturalistische und holistische Erfahrungstheorie im Lichte
seiner Ästhetik, wobei ästhetische Erfahrung als gesteigerte und in der Steigerung
zugleich in exzeptioneller Weise gelingende alltägliche Erfahrung expliziert
wird, die weder Erfahrung von etwas ist, noch eine Erfahrung, die ein Subjekt
macht. Dewey wird damit als wichtiger Vorläufer des performative turn in der
Ästhetik gewürdigt, der zugleich wichtige Einsichten der Medienästhetik vorbereitet.
Abschließend geht der Beitrag auf die politischen Implikationen dieser
Konzeption ein und setzt sie in Beziehung zum ästhetisch-politischen Projekt der
historischen Avantgarden.
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Berichte:
Marie-Luise Raters : Von Hegel zu Darwin. Die Wurzeln von Deweys Ästhetik in der Ästhetik des angelsächsischen Idealismus
Abstract John Dewey knüpft in seinem Pragmatismus in kreativer Weise an Traditionen des
angelsächsischen Idealismus an. In dieser heterogenen Bewegung sind Einflüsse
der englischen Romantik und des deutschen Idealismus von diversen Strömungen
des angelsächsischen Hegelianismus zu unterscheiden, die teilweise entgegengesetzte
Positionen vertraten. Auch die Orientierung an Darwins Evolutionstheorie,
die für Deweys Annahme einer Kontinuität zwischen ästhetischer Erfahrung und
gewöhnlichen Lebensprozessen in Art as Experience – und somit für seinen Bruch
mit der idealistischen Kunstphilosophie – entscheidend werden sollte, erschließt
sich im Ausgang von Anregungen des Oxford-Hegelianers Bosanquet. Die Pointe
von Deweys Ästhetik liegt in der Erwartung der Möglichkeit einer Ästhetisierung
und produktiven Umgestaltung der Lebenswelt, die von einer durch Produkte der
Künstlerkunst evozierten Unzufriedenheit ausgehen könne. Diese politische Perspektive
stellt zugleich Deweys Antwort auf das Problem der oxford-hegelianischen
Ästhetik dar.
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Martin Hartmann : Vertiefung der Erfahrung. John Dewey in der deutschsprachigen Rezeption
Abstract Nachdem die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus in Deutschland bis
zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem durch Ablehnung gekennzeichnet
war, setzte seit den sechziger Jahren bei Philosophen wie Karl Otto Apel
und Jürgen Habermas eine ernsthaftere Auseinandersetzung zunächst mit der
Philosophie von Peirce und Mead ein, während Dewey wie auch William James
in Deutschland noch länger kaum gelesen wurden. Erst in jüngerer Zeit hat – befördert
durch neuere Editionen und Übersetzungen, aber auch durch ein erneuertes
systematisches Interesse an der Theorie der ästhetischen Erfahrung wie an
der Philosophie der Demokratie und einer anthropologisch fundierten Kulturtheorie
– die Dewey-Rezeption in Deutschland Fahrt aufgenommen. Deweys Philosophie
– die zunächst als »unkritisch« abgetan wurde – wird als »kritische«
Philosophie neu entdeckt. Inwiefern dies zu einer folgenreichen Neuorientierung
unseres Philosophieverständnisses auf breiter Front führen kann, bleibt abzuwarten.
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