Johann Gottfried Herder

Evangelischer Theologe, Philosoph, Kunst- und Literartheoretiker, Dichter,
* 25.8.1744 Mohrungen (Ostpreußen),
† 18.12.1803 Weimar.

H. entstammt einem kargen pietistischen Elternhaus im ostpreußischen Städtchen Mohrungen. Schon als Zögling der Lateinschule, unter dem Rektor Grimme, verrät er außerordentliche Lernbegier. […] Der Chirurg eines in Mohrungen einquartierten russisch Regiments, Schwarz-Erla, bestimmt ihn im Frühjahr 1762, in Königsberg das Studium der Medizin aufzunehmen. Bei der ersten Leichenöffnung fällt der schmächtige und sensible junge Mann in Ohnmacht und wechselt im August zu Theologie und Philosophie über. Seine Lieblingsfächer werden Astronomie und physische Geographie, sein bevorzugter Lehrer Kant. Nebenbei versieht H. den Dienst eines Inspizienten, später eines Lehrers am Collegium Fridericianum. Die Lektüre Rousseaus und die Bekanntschaft J. G. Hamanns machen ihn mit freiheitlichen Ideen, mit englisch und französisch Sprache, mit Volkslied, ›Ossian‹ und Shakespeare vertraut.

Auf Verwendung Hamanns hin erfolgt im Herbst 1764 die Anstellung als Kollaborator an der Domschule zu Riga. 1765 wird H. dort als Lehrer und Prediger verpflichtet. Seine Predigten gewinnen ihm Freunde, ja schwärmerische Verehrer; viel zarter Umgang mit Frauen hat statt. Die Lektüre bestimmen Shaftesbury, Home, Young, Leibniz und Baumgarten; die Freimaurerloge »Zum Nordstern« nimmt ihn auf. Einem Ruf als Rektor der Sankt Petersburger Petersschule wirkt der Rat der Stadt Riga durch eine eigens für H. geschaffene Predigerstelle an der Hauptkirche entgegen.
Die ersten größeren Werke erscheinen: ›Über die neuere deutsche Litteratur. Fragmente‹ (3 Sammlungen, 1766/67) und ›Kritische Wälder‹ (3 Bände, 1769). Die ›Fragmente‹ deklarieren sich als »Beilagen zu den Briefen die neuere deutsche Litteratur betreffend«, jenem 1759-65 erschienenen Periodikum, das Lessing, Nicolai, Mendelssohn und Abbt zur höchsten kunstrichterlichen Instanz in Deutschland gemacht hatten. Diesen Männern stellt sich der 22jährige zur Seite, kritisiert jene Briefe selbst, übernimmt, kommentiert, verbessert ihre Urteile und versucht, aus den Einzelkritiken eine »pragmatische Geschichte der Litteratur« zu systematisieren.[…]

Der Gedanke, altes unreflektiert-mythisches Vorstellungsgeschiebe didaktisch zu nützen, durchzieht die meisten Schriften H.s und darf auch bei seinen Bemühungen um das Volkslied nicht übersehen werden; kein Museum wird da eingerichtet, sondern Studienmaterial gesammelt für die Aufklärung des Volks und der Nationen übereinander. Daß der Volksbegriff des russisch Staatsbürgers H. hier, wie auch später, kein eng nationalistischer ist, zeigen die Abschnitte, die den Dichter zum Lernen bei Griechen, Franzosen, Engländern und Italienern anhalten und sich gegen übertriebenen Purismus wehren. Eindeutig ist zudem, daß der Begriff – in einer Zeit, da französisch geprägte Fürsten in Deutschland die Macht besitzen – durchgehend soziologisch, klassenmäßig bestimmt ist und die Zuwendung zum »Volk« schon viel von H.s späterer Republikaner-Gesinnung vorausnimmt.

Die ›Fragmente‹ tragen H. die Anerkennung Kants und das Werben Nicolais um kunstrichterliche Mitarbeit an seiner »Neuen deutschen Bibliothek« ein, außerdem die bittere Feindschaft des von ihm angegriffenen Hallenser Professors Klotz und seines Schülers Riedel. Diese beiden werden in verschärfter Form im nächsten Werk H.s getroffen: den ›Kritischen Wäldern‹, deren drei erste 1769 erscheinen, während das vierte nicht mehr von H. selbst veröffentlicht wird. Neben der Ablehnung einer engherzig moralisierenden Kritik geht es ihm hier um die Zerstörung jeder aprioristisch aus leeren Definitionen deduzierenden Ästhetik; an ihre Stelle setzt H. die Analyse des Einzelwerks durch Einfühlung in die Situation seines Entstehens und die Absicht des Künstlers. […]

Am 5.6.1769 verläßt H. zusammen mit seinem Freund Behrens zu Schiff Riga, wohin er zurückkehren will, um die Stelle eines Direktors der livländisch Ritterakademie anzutreten. […] Der anschließende Aufenthalt in Paris führt H. mit Diderot und andern Enzyklopädisten zusammen. Ergebnis seiner französisch Studien und Erfahrungen ist, daß eine direkte Nachahmung französisch Einrichtungen, vor allem des Theaters, der deutschen Situation unangemessen sei.

Ein Antrag, den Erbprinzen von Holstein-Gottorf auf seiner Bildungsreise als Hofmeister und Prediger zu begleiten, führt H. nach Hamburg. Er schließt hier Bekanntschaft mit Lessing, Claudius, Bode und Reimarus. Die im Juli 1770 begonnene Reise geht über Darmstadt, wo H. bei Merck seine spätere Gattin kennenlernt und sich verlobt, nach Straßburg. Den längeren Aufenthalt in dieser Stadt benutzt H. zu einer erfolglosen Operation der erkrankten Tränenfistel; er trifft mit Goethe zusammen, auf den er nachhaltigen Einfluß gewinnt, ihn besonders zum Studium Shakespeares und Sammeln von Volksliedern anhaltend. Von hier reicht er seine Abhandlung ›Über den Ursprung der Sprache‹ der Berliner Akademie ein, deren Preisaufgabe für 1770 auf ein schon langjähriges Interesse H.s für Sprache und Sprachveränderung getroffen ist. […]

Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe, eingenommen durch eine verehrende Schrift H.s über Thomas Abbt, den 1766 verstorbenen Bückeburger Konsistorialrat, und eifrig, durch das junge Genie seinen kleinen Hof zu ehren, bietet H. Abbts Stelle an. H. entbindet sich von seinem Eutiner Dienstherrn und trifft im Mai 1771 in Bückeburg ein. Die ersten Bückeburger Jahre dienen der Reorganisation der verödeten Kirchenverwaltung. Für große Arbeiten bleibt wenig Zeit. Es werden Rezensionsschulden an Nicolais »Allgemeiner Deutscher Bibliothek« abgetragen, der Jahrgang 1772 der »Frankfurter. gelehrte Anzeiger« mit Goethe und Merck zusammen beliefert und geleitet, das Drama ›Brutus‹ verfaßt. Eine Bibliotheksreise nach Göttingen bringt die enge Freundschaft mit Ch. G. Heyne. Empfindsame Briefe gehen zu der entfernten Braut.
Zwei schon vor und in Straßburg konzipierte Aufsätze erscheinen 1773 zusammen mit Arbeiten Goethes, Mösers und Frisis bei Bode in Hamburg in dem Sammelband ›Von deutscher Art und Kunst‹: ›Shakespeare‹ und ›Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker‹. Anders als Lessing beurteilt H. im ersten Aufsatz Shakespeare nicht von der aristotelischen Definition her, wonach die Tragödie Furcht und Mitleid erregen soll, braucht ihn also nicht wie jener dadurch zu entschuldigen, daß er diesen Hauptzweck besser als die Franzosen erreiche, die der gleichfalls aristotelischen Forderung nach den drei Einheiten pünktlich genügen. […]

Die Heirat mit Caroline im Mai 1773 wirkt sehr anregend auf H.s schriftstellerische Produktivität: In diesem und dem nächsten Jahr entstehen und werden veröffentlicht ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹, ›An Prediger. Funfzehn Provinzialbriefe‹, der 1. Band der ›Ältesten Urkunden des Menschengeschlechts‹ (2. Band 1776), die 1774 von der Berliner Akademie gekrönte Preisschrift ›Ursachen des gesunknen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblühet‹, die ›Erläuterungen zum Neuen Testament‹ und die ›Briefe zweener Jünger Jesu in unserm Kanon‹. Viele kleinere Aufsätze und Rezensionen werden daneben in Zeitschriften untergebracht, drei weitere, ungekrönte, Preisaufgaben verfaßt und die Volksliedersammlung mit 4 Abhandlungen zum Druck bereitet; letzteres Werk kommt jedoch erst 1778/79 heraus, weil H. sich der zu erwartenden hämischen Kritik Nicolais jetzt nicht aussetzen will; mit letzterem ist wegen seiner ständigen Schulmeistereien an H.s Stil und eines ironischen Briefes über die ›Älteste Urkunde‹ im Juli 1774 ein harter Bruch erfolgt.

Man hat diese ungewöhnlich fruchtbare Epoche H.s die »orthodoxe« genannt und sie mit dem Einfluß Lavaters und des wieder befreundeten Hamann begründet. […] Man muß bei der Frage nach der »Orthodoxie« der genannten Schriften in Rechnung stellen, daß H. sich bald schon aus Bürkeburg, dem »despotischen Narren- und Zauberland«, »wegschreiben« wollte. Die stoischen Gespräche des alten Soldaten Graf Wilhelm und die geistige Dürftigkeit der Hofgesellschaft langweilten H., zudem verärgerte ihn eine Gehaltskürzung, den Grafen aber H.s Widerstand gegen simonistische Ämterbesetzungen. Seit 1773 bemühte sich Heyne in Göttingen um eine theologische Professur für H., was der in der ›Urkunde‹ bös angegriffene Michaelis und der in den Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 allzu großspurig rezensierte Schlözer blockieren. Man drängt auf theologische Veröffentlichungen und den Erweis der Rechtgläubigkeit. Dem schließlich auch noch geforderten mündlichen Examen in Orthodoxie entgeht H., der nach dem Tod der ihm freundschaftlich zugetanen Gräfin Maria 1776 unter allen Umständen Bückeburg verlassen wollte, durch den Weimarer Ruf, den Goethe beim Herzog durchgesetzt hat. […]

In Weimar trifft der freigeistige neue Hofprediger und Generalsuperintendent auf die Opposition der Geistlichkeit, dagegen auf das Wohlwollen des Volks und des Hofes. Letzteres schränkt sich ein, als der Herzog und Goethe wegen H.s Kritik an ihrem genialischen Treiben etwas abkühlen. Mit Wieland wird freundschaftlich distanzierte Beziehung aufgenommen, Gedichte und Abhandlungen erscheinen in seinem »Teutschen Merkur«. Der Aufsatz ›Hutten‹ (1776) stellt »Deutschlands Demosthenes«, der sich »patriotisch der Ehre, Freiheit und Aufklärung« des Volks annahm, dem tändelnden Schöngeist Erasmus gegenüber und provoziert die kritische Nachschrift Wielands, der für den Historiker das distanzierte Schweben über der Geschichte und den Parteien fordert – im schärfsten Gegensatz zum »Partheygeist« von H.s Geschichtsdarstellung.

An der Weimarer Schulreform 1785 hat H. großen Anteil; 1787 ernennt ihn die Berliner Akademie der Wissenschaften zum Ehrenmitglied. ›Briefe, das Studium der Theologie betreffend‹ und ›Vom Geiste der Ebräischen Poesie‹ erscheinen 1780/81 beziehungsweise 1782/83. Die Ablehnung eines Göttinger Rufs trägt H. die Ernennung zum Vizepräsidenten des Oberkonsistoriums ein nebst dem Versprechen des Herzogs, H. bei der Ausbildung seiner Söhne zu unterstützen. Die Italienreise H.s 1788/89, zunächst mit dem Trierer Domherrn Dalberg und dessen Freundin, später im Troß Anna Amalias, zeitigt keine Verjüngung wie bei Goethe; die direkte Konfrontation mit den Ruinen der Antike deprimiertden Gegenwartsbezogenen, in einzelnen Plastiken nur sieht er »Humanität« lebendig verkörpert. 1784-91 schreibt H. an dem Werk, das alle bisherigen Würfe und die Pläne der Seereise in sich versammeln soll, den ›Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit‹. Die 4 geschriebenen Bände – der projektierte fünfte unterbleibt aus politischer Vorsicht – verarbeiten die gesamte H. zugängliche geschichts-, natur-, sprach- und religionswissenschaftliche Literatur seiner Zeit. Sie entstehen in einer Periode wiedererwachter Freundschaft und regen wissenschaftlichen Austauschs mit Goethe. […]

Die französisch Revolution wird von H. als größtes Ereignis seit der Reformation und als ihre politische Fortsetzung begrüßt. Auch die von den Jakobinern berichteten Greuel bringen ihn nicht vom Glauben ab, daß hier der Fortschritt der Geschichte zu Vernunft und Republik mächtige Wirklichkeit geworden ist; ableiten läßt sich für ihn aus den Greueln nur, daß die Fürsten durch freiwillige Gesetzgebung dem notwendigen Gang der Geschichte zur Volkssouveränität zuvorkommen müssen, um jene Wirren zu ersparen. Scharf verurteilt er die Intervention der Alliierten, predigt gegen diesen Versuch, das Rad der Geschichte rückwärts zu drehen, und zieht sich so das Mißfallen des Herzogs und die Entfremdung Goethes zu. Die politischen Umstände behindern das freie Wort, darum werden jetzt Formen genutzt und neu ersonnen, in denen H. sich äußern kann, ohne »eigentlich responsabel« zu sein: Herausgabe und Einführung des schwäbisch Rebellen Johann Valentin Andreä, des Jesuiten Jakob Balde, diaphane Aufsätze über Luther und Hutten, mythologisch-philosophische Abhandlungen wie ›Tithon und Aurora‹ und viele andere, meist in den »Zerstreuten Blättern« zwischen 1785 und 1793 erschienen, vor allem aber die ›Briefe zur Beförderung der Humanität‹, in denen Josef II., Luther oder der Rebell B. Franklin gezielt zu Wort kommen und H. sich durch Partnerbriefe kaschiert ausspricht. 1793-97 werden diese Briefe veröffentlicht als Ersatz für den Gegenwartsband der ›Ideen‹, deren Meinungen über Regierungsform, Volkserziehung und davon abhängige Kulturhöhe aktualisierend.[…]

Mehr noch verärgert H. die Philosophie Kants, Fichtes und ihre Folgen bei den aufblühenden Romantikern. Er erkennt in den übertriebenen Programmen der jungen Poeten, den zum »Absoluten« aufsteigenden und von dort her begründenden Theorien und Demonstrationen eine Fluchtbewegung aus der politischen Lage und Forderung, ein aufwendiges Ersatzgetöse für die in Deutschland versäumte Revolution. Als die seiner Aufsicht unterstellten Pfarrerkandidaten in vermehrter Zahl und Intensität der »Transzendentalinfluenza« erliegen, philosophieren statt zu predigen, statt des Erwerbs historischer Kenntnisse aus dem Absoluten deduzieren, fühlt er sich gedrängt, als neuer »Luther« in zwei Schriften die kantianische »Scholastik«, ihre spitzfindigen und von der Praxis ablenkenden Distinktionen, zu zerschlagen. Die ›Metakritik‹ (1799) und die ›Kalligone‹ (1800), als Widerlegungen gedacht, werden Kant nicht gerecht. Die polemische Emotion hindert den Verfasser, auch nur Kants diffizile Unterscheidung der Urteilsarten nachzuvollziehen, und läßt den einstigen Schüler am alten Lehrer vorbeireden. […]

Die Verbindung mit Wieland wird jetzt herzlicher, gleichfalls der Austausch mit dem kauzigen Materialisten August von Einsiedel und dem Lukrez-Übersetzer Knebel. 1798 eröffnet sich eine schwärmerische Freundschaft mit Jean Paul, die dem Vergrämten Ermunterung, dem Jüngeren Gedanken schenkt, die besonders in seiner Ästhetik und den politischen Schriften wirksam werden. 1801 erhebt der bayerisch Kurfürst H. in den Adelsstand, um seinem Sohn Adalbert den Besitz des schon gekauften Guts Stachesried zu sichern. Der Herzog von Weimar, feindselig seit H.s Revolutionspredigten, erkennt die Nobilitierung nicht an; H. selbst gebraucht das »von« nicht.
Für das neue Jahrhundert wird eine Zeitschrift projektiert, die zur hoffnungsfrohen Arbeit an der neuen Zeit aufmuntern soll: »Aurora«; Einsiedel, die Brüder Georg und Johannes von Müller, Klopstock sagen Mitarbeit zu; aus dem Programm soll ausgeschlossen bleiben die »politische Orakel- und Zaubertracht«. Wie sehr das Mystifikation ist, zeigen zum Beispiel die dramatischen Allegorien ›Aeon und Aeonis‹ (1801) und ›Der entfesselte Prometheus‹ (1802), die in der ›Adrastea‹ erscheinen, jenem Werk in Fortsetzungen, das die nicht zustande kommende »Aurora« ersetzt und H.s späte Äußerungen aufnimmt – neben den Dramen vor allem historische Artikel, Diskussionen über Heidenmission und Freimaurerei, literaturgeschichtliche und gattungstheoretische Abhandlungen. […]

Dem schwer Leber- und Augenleidenden helfen zwei Badereisen nach Aachen und Eger 1800 wenig. Erfreulicher verlaufen eine zweite Kur in Eger und der anschließende 3wöchige Aufenthalt in Dresden im Sommer 1803. Die freie Luft der Großstadt erfrischt ihn, Besuche in Bibliothek und Galerie, der Umgang mit Menschen, die ihn seit langem verehren, tun ihm wohl und erfüllen ihn mit neuen schriftstellerischen Plänen. Nach Weimar zurückgekehrt, fällt er jedoch bald in schwere Krankheit, von der ihn im Dezember der Tod erlöst.

Wirkungsgeschichte

Lieber als den Dichter H. würdigt man den Nachdichter, besonders fremder Volkslieder und des ›Cid‹ (1802 f.), und den Prosaisten, wobei man neben der rhythmisch und bildhaft überhöhten Prosa (die H. selbst historisch und psychologisch reflektiert und bewußt einsetzt) der Bückeburger Schriften nicht die Prägnanz der frühen und die ausgewogene Mittellage der Weimarer Arbeiten vergessen darf. Großen Einfluß übt H., vor allem durch Vermittlung Jean Pauls, auf die literarische Formenwelt des 19. Jahrhundert: Das Romanzenepos, die Legende, das nachempfundene Volkslied, das hohe Epigramm, die mythologisch-politische Fabel und andere Formen, vor allem solche der Lehre und Erbauung, sind durch ihn neu verbindlich geworden. Die großen Literaturhistoriker Bouterwek, Gervinus, Heinrich Kurz, H. Hettner haben von ihm die realistische und liberale Gesinnung und die Methode gelernt, ästhetische Äußerungen auf ihre jeweilige Gesellschaft zurückzubeziehen. […] Direkt für die Politik wurde H. im Osten wirksam: Die baltischen Staaten wurden durch seine Schriften zum Eigenbewußtsein geführt, über die tschechische Romantik der Celakowsky, Kollar, Safarik und Palacky hilft er – das Slavenkapitel der »Ideen« gibt den bedeutendsten Impetus – bei der Bildung der slavischen Nationen; bis zu Masaryk bleibt ihm der Ehrenname »Praeceptor Slavorum«. Für die liberale Theologie ist H. einer der großen Ahnherren. Seine Methode, die Schriften des Alten Testaments poetologisch anzusehen und ihnen die Kategorie dichterischer Gattungen unterzulegen, läßt ihn zu einem neuen Verständnis der biblischen Bilder- und Gleichnissprache gelangen. […] Fest steht er in der Tradition der Aufklärung, schon die Lieblingsbegriffe und -bilder: Vernunft, Morgenröte, Licht hinter der Wolke, Glückseligkeit, Humanität beweisen es. Ihrem englisch Zweig ist der Empiriker und Pragmatiker am stärksten verpflichtet. H. »überwindet« die Aufklärung nicht, zum Glück. Wo sie selbstgenügsam und steril geworden, da greift er an. So wird die Vernunft zwar psychologisch, historisch und gesellschaftlich reflektiert und wo nötig relativiert, stets aber zu dem Zweck, die Aufklärung zum Allgemeingut und damit praktisch zu machen.

Werke von oder mit Johann Gottfried Herder:


edition

UmschlagfotoUmschlagfotoUmschlagfotoUmschlagfoto

Johann Gottfried Herder: Studien und Entwürfe

Posthumous manuscripts. Critical edition.

Ca. 2 Volumes
Cloth-bound
ISBN 978-3-7728-2439-5
© frommann-holzboog Verlag e.K. 2024